Stoner: Roman (German Edition)
Kräften zu überlassen, von denen die Welt ihrem unbekannten Ende entgegengetrieben wurde; und wie Archer Sloane es getan hatte, zog auch Stoner sich ein wenig in Mitleid und Liebe zurück, weshalb ihn die allgemeine Rastlosigkeit verschonte, die er überall beobachten konnte. Und wie in anderen Momenten der Krise und Verzweiflung wandte er sich erneut jenem verhaltenen Glauben zu, der in der Institution Universität zum Ausdruck kam. Er sagte sich, dies sei gewiss nicht viel, doch wusste er, dass es alles war, was er hatte.
Im Sommer 1937 flammte die alte Leidenschaft fürs Studieren und Lernen wieder auf, weshalb er mit der ureigenen,unkörperlichen Tatkraft des Gelehrten, die weder Jugend noch Alter kennt, zu dem einzigen Leben zurückkehrte, das ihn nie enttäuscht hatte. Und er stellte fest, dass er sich von diesem Leben trotz aller Verzweiflung nicht allzu weit entfernt hatte.
Der Wochenplan fiel für ihn in jenem Herbstsemester besonders nachteilig aus. Seine vier Einführungskurse für Erstsemester fanden an sechs Tagen die Woche zu weit auseinanderliegenden Stunden statt. Während seiner gesamten Zeit als Fachbereichsvorsitzender hatte Lomax ihm stets einen Unterrichtsplan zugewiesen, mit dem sich selbst neue Dozenten nur murrend abgefunden hätten.
Am ersten Unterrichtstag des akademischen Jahres saß Stoner früh in seinem Büro und studierte erneut den sauber abgetippten Unterrichtsplan. Am Abend zuvor war er lange aufgeblieben, um eine neue Abhandlung über das Fortwirken mittelalterlicher Einflüsse auf die Renaissance zu lesen, und die Begeisterung, die er beim Lesen gespürt hatte, klang auch jetzt noch in ihm nach. Er studierte den Plan, und dumpfer Ärger begann sich in ihm zu regen. Einige Augenblicke lang starrte er die Wand an, dann warf er erneut einen Blick auf den Plan, nickte, warf Plan und angehängte Lektüreliste in den Papierkorb und trat an den Aktenschrank in einer Ecke des Zimmers. Er zog die obere Schublade auf, musterte zerstreut die braunen Mappen, fischte eine heraus, blätterte sie durch und pfiff dabei stumm vor sich hin. Dann schloss er die Schublade, verließ mit der Mappe unterm Arm das Büro und ging über den Campus zu seinem ersten Seminar.
Er betrat ein altes Gebäude mit Holzfußboden, das nur noch in Notfällen für den Unterricht genutzt wurde; der ihm zugewiesene Raum war zu klein für die Anzahl der Studenten,die sich für den Kurs eingetragen hatten, weshalb einige der jungen Leute stehen oder auf den Fensterbänken sitzen mussten. Sobald Stoner hereinkam, sahen sie ihn nervös oder unsicher an; er mochte Freund oder Feind sein, und sie wussten nicht, was schlimmer wäre.
Er entschuldigte sich bei den Studenten für die Räumlichkeiten, machte einen kleinen Witz auf Kosten des Sekretariats und versicherte jenen, die standen, dass es morgen Stühle für sie geben werde. Dann legte er die Mappe auf das ramponierte Lesepult, das wacklig auf seinem Tisch stand, und ließ den Blick über die ihm zugekehrten Gesichter wandern.
Er zögerte einen Moment, ehe er sagte: »Wer sich von Ihnen die Texte für diesen Kurs gekauft hat, kann sie in die Buchhandlung zurückbringen und sich das Geld erstatten lassen. Wir werden uns auch nicht mit dem Text befassen, der auf der Lektüreliste steht, die Ihnen gewiss ausgeteilt wurde, als Sie sich für diesen Kurs eingeschrieben haben. Ebenso wenig werden wir die Bücher auf besagter Lektüreliste benötigen. Ich beabsichtige, mich in diesem Kurs dem Thema auf anderem Wege zu nähern, weshalb ich Sie bitten muss, sich zwei neue Texte zu kaufen.«
Er wandte seinen Studenten den Rücken zu, nahm ein Stück Kreide aus der Schale unter der zerschrammten Tafel und hielt einen Moment inne, um auf das gedämpfte Seufzen und Geraschel der Studenten zu lauschen, die es sich an ihren Tischen bequem machten und sich innerlich auf die plötzlich wieder so vertraute Routine einstellten.
»Die Texte, die wir brauchen«, sagte Stoner und betonte die Worte einzeln, während er sie an die Tafel schrieb, »sind Mittelalterliche Lyrik und Prosa , herausgegeben von Loomis und Willard, sowie Englische Literaturkritik: Das Mittelalter von J. W. H. Atkins.« Er wandte sich zum Seminar um. »Sie werden feststellen, dass diese Texte noch nicht in den Buchhandlungen vorrätig sind – es könnte bis zu zwei Wochen dauern, ehe sie eintreffen. In der Zwischenzeit werde ich Ihnen einige Hintergrundinformationen zu Thema und Ziel dieses Kurses sowie einige
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