Stoner: Roman (German Edition)
trug er sie halb durch den Eingang des Ambassador-Hotels, ein mächtiges Gebäude aus braunem Sandstein. Die Lobby lag fast verlassen da, dunkel und mächtig wie eine Höhle. Bei ihrem Eintritt verstummte Edith abrupt und schwankte unsicher, als sie über den weiten Fliesenboden zum Empfangstisch gingen. Kaum waren sie dann auf ihrem Zimmer, schien sie nahezu körperlich krank zu sein, zitterte wie im Fieber, und die Lippen hoben sich blau von der kalkweißen Haut ab. William wollte einen Arzt rufen, doch beharrte Edith darauf, dass sie nur müde sei und etwas Ruhe brauche. Ernst unterhielten sie sich über die Anstrengungen des Tages, und Edith deutete eine Schwäche an, die ihr von Zeit zu Zeit zu schaffen mache. Ohne ihn anzuschauen und ohne die Stimme zu verändern, murmelte sie, sie wolle, dass ihre ersten gemeinsamen Stunden vollkommen seien.
Und William sagte: »Das sind sie, Liebes. Das werden sie sein. Du musst dich ausruhen. Unsere Ehe beginnt morgen.«
Und wie so manch ein Bräutigam, von dem er gehört undauf dessen Kosten er sich gelegentlich lustig gemacht hatte, verbrachte er die Hochzeitsnacht nicht an der Seite seiner Frau, sondern rollte den langen Leib auf einem unbequemen, kleinen Sofa zusammen, lag schlaflos da und blickte mit offenen Augen in die vergehende Nacht.
Er wachte früh auf. Ihre Suite, als Hochzeitsgeschenk von Ediths Eltern gebucht und bezahlt, lag im zehnten Stock und bot einen weiten Blick über die Stadt. Leise rief er nach Edith, die wenige Minuten später aus dem Schlafzimmer kam, sich die Schärpe um den Morgenmantel band, verschlafen gähnte und ein wenig lächelte. William spürte, wie ihm die Liebe zu ihr die Kehle zudrückte, nahm Edith an der Hand, und zusammen standen sie vor dem Fenster im Wohnzimmer und blickten in die Tiefe. Automobile, Fußgänger und Kutschen schoben sich unter ihnen durch die engen Straßen; und sie fühlten sich dem Alltag und Streben der Menschen enthoben. In der Ferne, hinter quadratischen Gebäuden aus rotem Ziegel gerade noch zu erkennen, schlängelte sich der Mississippi bläulich-braun in der Morgensonne; Flussboote und Schlepper glitten wie Spielzeuge durch seine langen Kurven, und ihre Schornsteine gaben in rauen Mengen grauen Rauch in die winterliche Luft ab. Eine Art Ruhe überkam ihn; er legte den Arm um seine Frau und drückte sie leicht an sich, während sie beide auf eine Welt hinabschauten, die ihnen voller Versprechen und stillem Abenteuer zu sein schien.
Sie frühstückten zeitig. Edith wirkte erfrischt, gänzlich erholt von ihrer Unpässlichkeit am Abend zuvor; sie war fast wieder fröhlich und blickte William mit einer Innigkeit und Wärme an, die er ihrer Dankbarkeit und Liebe zuschrieb. Sie erwähnten den Abend zuvor mit keinem Wort; nur gelegentlichschaute Edith auf ihren neuen Ring und drehte daran.
*
Sie zogen sich warm an, spazierten durch die Straßen von St. Louis, die sich gerade erst mit Passanten füllten, und blieben vor den Schaufenstern stehen. Sie redeten über die Zukunft und fragten sich nachdenklich, wie sie zu füllen sei, während William allmählich jene Leichtigkeit und sprachliche Gewandtheit wiederfand, die er zu Beginn seines Werbens um diese Frau entdeckt hatte, die nun seine Gattin geworden war. Edith hing an seinem Arm und schien ihm so aufmerksam zuzuhören wie nie zuvor. Ihren vormittäglichen Kaffee tranken sie in einem kleinen, freundlichen Lokal und sahen dabei den durch die Kälte huschenden Fußgängern nach. Sie fanden eine Kutsche, die sie zum Kunstmuseum brachte. Arm in Arm wanderten sie durch die hohen Hallen, deren satte Lichtflut von den Bildern zurückgestrahlt wurde. In der Stille, der Wärme, der Luft, denen die alten Gemälde und Statuen eine Aura der Zeitlosigkeit verliehen, empfand William Stoner eine Woge der Zuneigung für diese groß gewachsene, zarte junge Frau an seiner Seite und fühlte in sich eine ruhige Leidenschaft für sie aufsteigen, so warm und sinnlich wie die Farben, die von den Wänden ringsum auf ihn eindrangen.
Als sie am späten Nachmittag wieder nach draußen kamen, hatte sich der Himmel zugezogen, und es fiel ein leichter Nieselregen, doch trug William Stoner noch die Wärme in sich, die er im Museum aufgesogen hatte. Kurz nach Sonnenuntergang waren sie zurück im Hotel; Edith ging insSchlafzimmer, um sich auszuruhen, und William telefonierte mit dem Empfang, um ein leichtes Abendessen aufs Zimmer bringen zu lassen. Einer plötzlichen Eingebung folgend
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