Stoner: Roman (German Edition)
also …« Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen, obwohl ihr Gesicht immer noch in einem strahlenden Lächeln erstarrt war. »Jetzt komme ich wohl nie mehr hin. Tante Emma wird bald sterben, und ich habe keine Gelegenheit mehr …«
Und dann strömten Tränen aus ihren Augen, und sie begann zu schluchzen, obwohl das Lächeln noch ihre Lippen straffte. Stoner und Finch erhoben sich aus ihren Sesseln.
»Edith«, sagte Stoner hilflos.
»Ach, lass mich in Ruhe!« Mit einer seltsam verdrehten Bewegung erhob sie sich mit einem Mal und stand vor ihnen, die Augen fest zusammengepresst, die Hände zu Fäusten geballt. »Ihr alle! Lasst mich einfach in Ruhe!« Sie wandte sich um, taumelte ins Schlafzimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
Einen Moment lang sagte niemand ein Wort; nur Ediths gedämpftes Schluchzen war zu hören. Dann sagte Stoner: »Ihr müsst sie entschuldigen. Sie ist müde, und es geht ihr nicht allzu gut. Die Anspannung …«
»Sicher, ich weiß doch, wie das ist.« Finch lachte lahm. »Frauen! Schätze, ich werde mich schon bald dran gewöhnen müssen.« Er warf Caroline einen Blick zu, lachte erneut und senkte dann die Stimme. »Nun, wir wollen Edie nicht weiter stören. Richte ihr bitte unseren Dank aus und sag ihr, das Essen sei hervorragend gewesen. Sobald wir uns eingerichtet haben, müsst ihr auch bald mal zu uns kommen.«
»Danke, Gordon«, erwiderte Stoner. »Ich werde es ihr sagen.«
»Und mach dir keine Sorgen«, sagte Finch und boxte Stoner auf den Arm. »So was passiert schon mal.«
Nachdem Gordon und Caroline gegangen waren und nachdem er zugesehen hatte, wie der neue Wagen in die Nacht davongeröhrt und -geknattert war, stand William Stoner mitten im Wohnzimmer und lauschte Ediths trockenem, gleichmäßigem Schluchzen. Es waren merkwürdig flache, fast gefühllose Laute, die andauerten, als ob sie niemals wieder aufhören würden. Er wollte ihr gut zureden, wollte sie trösten, nur wusste er nicht, was er sagen sollte. Also stand erda und lauschte, und erst nach einer Weile fiel ihm auf, dass er Edith nie zuvor weinen gehört hatte.
*
Nach dem unglückseligen Essen mit Gordon Finch und Caroline Wingate wirkte Edith fast zufrieden und auch ruhiger als je zuvor während ihrer Ehe. Allerdings wollte sie niemanden mehr im Haus haben, und es widerstrebte ihr, die Wohnung zu verlassen. Stoner erledigte die meisten Einkäufe mithilfe von Listen, die Edith ihm in ihrer seltsam umständlichen und kindlichen Schrift auf kleine Zettel aus blauem Notizpapier schrieb. Am glücklichsten war sie offenbar, wenn sie allein war; dann saß sie stundenlang und nähte oder stickte Tischdecken und Servietten, auf den Lippen ein nach innen gekehrtes Lächeln. Immer häufiger besuchte sie zudem ihre Tante Emma Darley. Wenn William am Nachmittag von der Universität heimkam, sah er die beiden oft zusammensitzen, Tee trinken und sich so leise unterhalten, dass man glauben konnte, sie flüsterten. Sie grüßten ihn stets höflich, doch wusste William, dass sie ihn mit Bedauern kommen sahen. Nach seiner Ankunft blieb Mrs Darley selten länger als einige Minuten. Er lernte, eine unaufdringliche und behutsame Rücksicht für jene Welt an den Tag zu legen, in der Edith zu leben begonnen hatte.
Im Sommer des Jahres 1920 verbrachte er eine Woche bei seinen Eltern, während der Edith ihre Verwandten in St. Louis besuchte; er hatte seine Mutter und seinen Vater seit der Hochzeit nicht mehr gesehen.
Ein, zwei Tage arbeitete er auf dem Feld und half seinem Vater sowie dem schwarzen Landarbeiter. Doch weder derwarm, feucht, unter seinen Füßen nachgebende Ackerboden noch der Geruch frisch aufgebrochener Erde weckten in ihm ein Verlangen nach Rückkehr oder ein Gefühl der Vertrautheit. Er fuhr nach Columbia zurück und verbrachte den restlichen Sommer damit, ein neues Seminar vorzubereiten, das er im kommenden akademischen Jahr halten wollte. Die meiste Zeit saß er daher in der Bibliothek und kehrte manchmal erst spätabends zu Edith in die Wohnung zurück, roch den schweren, süßlichen Geruch vom Geißblatt in der warmen Luft, wenn er an den zarten, sich allmählich verfärbenden Blättern der Hartriegelbäume vorbeilief, die gespenstisch im Dunkeln raschelten. Seine Augen brannten vor lauter Konzentration auf nur schummrig beleuchtete Texte, der Kopf war ihm schwer vom Gelesenen, und die Finger fühlten sich taub an von Pappdeckel, Papier und altem Leder, doch war er offen für die Welt, an der er
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