Stoner: Roman (German Edition)
Oberseminar ist, weshalb ich niemanden ermuntere, daran teilzunehmen, wenn er sich nicht ernsthaft dafür interessiert.«
»Aber ja, Sir«, erwiderte Walker. »Ich kann Ihnen versichern, dass ich mich wirklich ernsthaft dafür interessiere.«
Stoner nickte. »Wie ist Ihr Latein?«
Walker wackelte mit dem Kopf. »Ach, bestens, Sir. Ich habe die Lateinprüfung zwar noch nicht abgelegt, kann es aber recht gut lesen und verstehen.«
»Und wie sieht es mit Französisch und Deutsch aus?«
»Aber ja, Sir. Auch da habe ich die Prüfungen allerdings noch nicht bestanden; ich dachte, ich räume sie mir Ende dieses Jahres alle zusammen aus dem Weg. Allerdings beherrsche ich die beiden Sprachen ziemlich gut.« Walker schwieg und setzte dann hinzu: »Dr. Lomax sagte, er glaube, ich werde mit der Arbeit im Seminar keine Schwierigkeiten haben.«
Stoner seufzte erneut. »Also gut«, sagte er. »Ein Großteil der Lektüre ist auf Latein, manches auf Französisch und Deutsch, aber notfalls behalten Sie auch ohne Kenntnis der letzteren Sprachen den Anschluss. Ich gebe Ihnen eine Leseliste, und wir sprechen nächsten Mittwochnachmittag über das Thema Ihrer Seminararbeit.«
Walker dankte ihm überschwänglich und erhob sich mit einiger Mühe von seinem Stuhl. »Ich fang gleich mit der Lektüre an«, erklärte er. »Ich bin mir sicher, Sie werden es nicht bedauern, Sir, dass Sie mich noch in das Seminar aufgenommen haben.«
Stoner blickte ihn leicht überrascht an. »Mir ist nicht einmal der Gedanke gekommen, Mr Walker«, sagte er trocken. »Wir sehen uns am Mittwoch.«
*
Das Seminar fand in einem kleinen Kellerraum im Südflügel von Jesse Hall statt. Die Wände verströmten einen klammen, aber keineswegs unangenehmen Geruch, und Füße scharrten mit hohlem Geflüster über nackten Zementboden. Eine einzelne Glühbirne hing an der Decke und leuchtete so herab, dass jene, die an ihren Pulten in der Zimmermitte Platz nahmen, in einem hellen Lichtklecks saßen; die Wändejedoch waren dämmriggrau und die Ecken so schwarz, als saugte der glatte, unverputzte Beton alles Licht auf, das von der Decke fiel.
An jenem zweiten Mittwoch im Semester kam William Stoner einige Minuten zu spät, begrüßte die Studenten und begann, Bücher und Papiere auf dem schmalen gebeizten Eichentisch anzuordnen, der quer vor der Tafel stand. Stoner musterte die über den Raum verteilte kleine Gruppe. Einige Studenten kannte er, zwei waren Doktoranden, deren Arbeiten er betreute, vier Magisterstudenten am Fachbereich, die er schon in ihren ersten Semestern unterrichtet hatte, von den verbleibenden Studenten strebten drei einen Abschluss im Fach Moderne Sprachen an, einer war Philosophiestudent, der seine Dissertation über die Scholastik schrieb, eine Frau mittleren Alters war Lehrerin an einer Highschool und wollte während eines Freisemesters ihren Magister nachholen, und die letzte eine dunkelhaarige junge Frau, eine neue Dozentin am Fachbereich, die für zwei Jahre einen Lehrauftrag übernahm, um in dieser Zeit ihre Dissertation zu beenden, mit der sie angefangen hatte, als sie den Unterricht an einer der Ostküsten-Universitäten aufgab. Sie hatte Stoner gefragt, ob sie als Gasthörerin an seinem Seminar teilnehmen dürfe, und er hatte eingewilligt. Charles Walker war nicht anwesend. Stoner wartete noch einige Augenblicke, sortierte seine Papiere, räusperte sich dann und begann.
»Bei unserem ersten Treffen haben wir den inhaltlichen Rahmen dieses Seminars abgesteckt und beschlossen, unser Studium des mittelalterlichen Lateins auf die ersten drei der sieben freien Künste zu beschränken – also auf Grammatik, Rhetorik und Dialektik.« Er legte eine Pause ein und beobachtetedie Studenten, die ihm ihre aufmerksamen, neugierigen, maskenhaften Gesichter zuwandten und auf jedes seiner Worte achteten.
»Eine solch rigide Begrenzung mag einigen von Ihnen töricht erscheinen, doch zweifle ich nicht daran, dass wir genügend Stoff haben, um uns selbst dann noch zu beschäftigen, wenn wir auch nur oberflächlich die Entwicklung des Triviums bis ins 16. Jahrhundert hinein verfolgen. Dabei gilt es unbedingt zu begreifen, dass diese Künste, also Rhetorik, Grammatik und Dialektik, für den Menschen des späten Mittelalters und der frühen Renaissance eine Bedeutung hatten, die wir heute ohne jede historische Imagination nur noch ungefähr erahnen können. Für einen damaligen Gelehrten ging es bei der Kunst der Grammatik beispielsweise nicht bloß um eine
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