Stoner: Roman (German Edition)
Prüfungen nahmen einen wachsenden Teil von Stoners Zeit in Anspruch. Überrascht stellte er fest, dass er sich als Dozent einer bescheidenen Popularität erfreute und sogar Studenten abweisen musste, die an seinem Fortgeschrittenenseminar über Latein und die Literatur der Renaissance teilnehmen wollten; seine Einführungskurse für Erstsemester waren immer voll. Mehrere Doktoranden baten ihn, ihre Doktorarbeit zu betreuen, und noch mehr wählten ihn zum Prüfer für ihre kommissionelle Prüfung.
Im Herbst des Jahres 1931 war das Seminar schon vor dem Tag der Anmeldung nahezu komplett belegt; viele Studenten hatten sich bei Stoner bereits am Ende des vorhergehenden akademischen Jahres oder im Laufe des Sommers gemeldet. Eine Woche nach Semesterbeginn, als das Seminar bereits einmal stattgefunden hatte, kam ein Student in Stoners Büro und bat darum, noch aufgenommen zu werden.
Stoner saß an seinem Schreibtisch, vor sich eine Liste der Seminarstudenten, und versuchte, ihnen Themen für ihre Seminararbeiten zuzuteilen, was er besonders knifflig fand, da er viele Teilnehmer noch gar nicht kannte. Es war ein Nachmittag im September, und das Fenster neben dem Schreibtisch stand offen; die Fassade des großen Gebäudes lag im Schatten, und auf dem grünen Rasen davor zeichneten sich deutlich die Umrisse des Gebäudes, das Halbrund des Kuppelbaus und die unregelmäßige Dachsilhouette ab, die das Grün verdunkelten und unmerklich über den Campus wanderten. Eine kühle Brise drang durchs Fenster und brachte frischen Herbstgeruch mit.
Als es klopfte, drehte er sich zur offenen Tür um und sagte: »Herein.«
Eine Gestalt schob sich aus dem dunklen Flur ins helleZimmer. Stoner blinzelte träge gegen das Zwielicht an und bemerkte einen Studenten, der ihm bereits auf den Fluren aufgefallen war, obwohl er ihn nicht kannte. Der linke Arm des jungen Mannes hing steif nach unten, und er zog den linken Fuß beim Gehen nach. Das Gesicht war blass und voll, die Hornbrille rund, das schüttere schwarze Haar präzise gescheitelt und flach am Kopf anliegend.
»Dr. Stoner?«, fragte er, die Stimme durchdringend und abgehackt, die Aussprache präzise.
»Ja«, erwiderte Stoner. »Wollen Sie sich nicht setzen?«
Der junge Mann nahm auf dem harten Holzstuhl vor Stoners Schreibtisch Platz; das linke Bein gerade ausgestreckt, darauf ruhte die dauerhaft zu einer halb geschlossenen Faust verkrümmte linke Hand. Er lächelte, nickte und sagte in eigenartig selbstironischem Ton: »Sie kennen mich vielleicht noch nicht; ich bin Charles Walker, Doktorand im zweiten Jahr. Ich bin der Assistent von Dr. Lomax.«
»Ja, Mr Walker«, sagte Stoner. »Was kann ich für Sie tun?«
»Nun, ich bin gekommen, um Sie um einen Gefallen zu bitten, Sir.« Wieder lächelte Walker. »Ich weiß, Ihr Seminar ist schon voll, aber ich möchte trotzdem noch gern daran teilnehmen.« Er schwieg und setzte dann ein wenig nachdrücklich hinzu: »Dr. Lomax meinte, ich solle mit Ihnen reden.«
»Ich verstehe«, antwortete Stoner. »Und was ist Ihr Spezialgebiet, Mr Walker?«
»Die romantischen Dichter«, sagte Walker. »Dr. Lomax ist mein Doktorvater.«
Stoner nickte. »Wie weit sind Sie mit Ihrer Arbeit?«
»Ich hoffe, in zwei Jahren fertig zu sein«, erwiderte Walker.
»Tja, das macht die Sache einfacher«, sagte Stoner. »Ich biete das Seminar jedes Jahr an. Es ist jetzt wirklich schonso voll, dass man es kaum noch ein Seminar nennen kann, und ein Student mehr würde gleichsam das Fass zum Überlaufen bringen. Warum warten Sie nicht bis zum nächsten Jahr, wenn Sie das Seminar unbedingt mitmachen wollen?«
Walker wandte den Blick von ihm ab. »Nun, ehrlich gesagt«, antwortete er und bedachte Stoner dann wieder mit einem strahlenden Lächeln, »bin ich das Opfer eines Missverständnisses. Was natürlich allein meine Schuld ist. Mir war nicht klar, dass jeder Doktorand mindestens vier Fortgeschrittenenseminare absolvieren muss, weshalb ich bis zum letzten Jahr überhaupt keines belegt habe. Und wie Sie wissen, ist mehr als eines pro Semester nicht gestattet. Wenn ich also in zwei Jahren meinen Abschluss machen will, muss ich nun jedes Semester eines dieser Seminare belegen.«
Stoner seufzte. »Ich verstehe. Also interessieren Sie sich gar nicht spezifisch für die Einflüsse der lateinischen Tradition?«
»Doch, natürlich, Sir. Ganz bestimmt. Das Thema wäre für meine Arbeit überaus hilfreich.«
»Sie sollten wissen, Mr Walker, dass dies ein hochspezielles
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