Stoner: Roman (German Edition)
selbst, und die Studenten waren so sehr bei der Sache, dass Stoner zu einem von ihnen wurde und sich ebenso eifrig wie sie der Suche hingab. Selbst die Gasthörerin – die junge Dozentin, die sich vorübergehend an der Columbia aufhielt, um ihre Doktorarbeit zu schreiben – fragte, ob sie über eines der Seminarthemen eine Arbeit schreiben dürfe. Sie meinte, auf etwas gestoßen zu sein, was auch für die übrigen Studenten vonInteresse sein könnte. Sie hieß Katherine Driscoll und war Ende zwanzig. Stoner hatte sie kaum wahrgenommen, bis sie sich nach dem Unterricht wegen der Arbeit an ihn wandte und fragte, ob er nicht ihre Doktorarbeit lesen könne, sobald sie fertig sei. Er sagte, er würde ihre Seminararbeit begrüßen und sei gern bereit, sich mit ihrer Doktorarbeit zu befassen.
Die Seminararbeiten waren für die zweite Hälfte des Semesters angesetzt, also für die Zeit nach den Weihnachtsferien. Walkers Aufsatz über ›Hellenismus und die mittelalterliche Lateintradition‹ war früh fällig, doch schob er ihn immer wieder auf und erklärte Stoner, wie schwierig es sei, benötigte Bücher zu bekommen, da sie in der Universitätsbibliothek ausgeliehen seien.
Es war ausgemacht, dass die Gasthörerin Miss Driscoll ihre Arbeit erst präsentierte, nachdem die regulären Studenten ihre Vorträge gehalten hatten, doch an dem letzten von Stoner für Seminararbeiten vorgesehenen Tag, zwei Wochen vor Ende des Semesters, bat Walker erneut um eine Woche Aufschub; er sei krank gewesen, die Augen hätten ihm wehgetan, und ein wichtiges Buch sei über die Fernleihe nicht rechtzeitig eingetroffen. Also hielt Miss Driscoll ihren Vortrag an dem Tag, der durch Walkers Absage frei geworden war.
Ihr Thema lautete ›Donatus und die Tragödie der Renaissance‹. Sie konzentrierte sich auf Shakespeares Gebrauch der donatischen Tradition, die bis in Grammatiken und Handbücher des Mittelalters Bestand gehabt hatte. Schon nach wenigen Augenblicken wusste Stoner, dass ihr Vortrag gut sein würde, und er hörte mit einer Begeisterung zu, wie er sie schon lange nicht mehr empfunden hatte. Nachdem sie geendet und das Seminar über ihre Arbeit diskutiert hatte,hielt er sie noch einen Moment zurück, während die Studenten den Raum verließen.
»Ich wollte Ihnen nur sagen, Miss Driscoll …« Er verstummte, und einen Moment lang packte ihn ein Gefühl der Verlegenheit und Betretenheit. Mit ihren großen dunklen Augen schaute sie ihn fragend an, das schneeweiße Gesicht ein deutlicher Gegensatz zu dem strengen schwarzen Rahmen ihrer Haare, die straff nach hinten gekämmt und zu einem kleinen Knoten zusammengebunden waren. Er fuhr fort: »Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Ihre Arbeit der beste mir bekannte Beitrag zu diesem Thema ist, weshalb es mich sehr freut, dass Sie sich freiwillig bereit erklärt haben, diesen Vortrag zu halten.«
Sie gab keine Antwort und änderte auch ihre Miene nicht, doch fürchtete Stoner einen Moment lang, sie sei verärgert, da er etwas Wildes in ihren Augen aufblitzen sah. Dann lief sie dunkelrot an und senkte den Kopf, ob aber aus Unmut oder Freude, konnte Stoner nicht sagen; gleich darauf eilte sie davon. Beunruhigt und verwirrt ging Stoner langsam aus dem Zimmer, während er sich zugleich besorgt fragte, ob er sie in seinem Ungeschick irgendwie verletzt haben könnte.
So behutsam wie nur möglich hatte er Walker gewarnt, dass seine Arbeit am nächsten Mittwoch abzuliefern sei, falls er denn einen Schein für das Seminar erhalten wolle, doch wie beinahe erwartet, reagierte Walker bei allem Respekt kühl und verstimmt auf seine Warnung und beschrieb erneut die vielen Hindernisse und Schwierigkeiten, die sich ihm in den Weg gestellt hatten, während er Stoner zugleich versicherte, dass es keinen Anlass zur Sorge gäbe, da die Arbeit an seinem Vortrag fast abgeschlossen sei.
An jenem letzten Mittwoch wurde Stoner mehrere Minutenvon einem Studenten in seinem Büro aufgehalten, der unbedingt von ihm hören wollte, dass er für den Einführungskurs im zweiten Studienjahr noch ein Ausreichend bekomme, da man ihn ansonsten aus der Burschenschaft werfe. Stoner eilte nach unten, und als er ein wenig außer Atem den Seminarraum im Keller betrat, sah er Charles Walker an seinem eigenen Platz sitzen, wie er ein wenig herrisch und ernst den Blick über die kleine Studentengruppe schweifen ließ. Es war nicht zu übersehen, dass er sich seinen Träumereien auch dann noch hingab, als er sich zu Stoner umwandte und
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