Stoner: Roman (German Edition)
eher mechanische Anordnung der einzelnen Teile seiner Rede, da Studium und Praxis der Grammatik von der späthellenistischen Zeit bis tief ins Mittelalter nicht allein die bei Platon und Aristoteles erwähnte ›Kunst des Lesens und Schreibens‹ umfassten, sondern auch, und dies wurde immer wichtiger, ein Studium der Dichtkunst in all ihrer sprachlichen Raffinesse einschlossen, eine Exegese der Lyrik sowohl nach Form und Inhalt als auch nach den Schönheiten des Stils, sofern Letzterer sich von der Rhetorik unterschied.«
Er erwärmte sich für sein Thema und merkte, wie mehrere Studenten sich vorbeugten und aufhörten, sich Notizen zu machen. Er fuhr fort: »Würden wir im 20. Jahrhundert gefragt, welche dieser drei Künste die wichtigste sei, entschieden wir uns gewiss für Dialektik oder Rhetorik und wohl kaum für die Grammatik. Der römische oder mittelalterliche Gelehrte aber – und der Dichter – hätte höchstwahrscheinlichdie Grammatik als die Wichtigste dieser drei Künste genannt. Wir dürfen nicht vergessen …«
Ein lautes Geräusch unterbrach ihn. Die Tür war aufgegangen, und Charles Walker betrat den Raum. Als er die Tür schloss, glitten ihm seine Bücher aus dem verkrüppelten Arm und krachten zu Boden. Umständlich beugte er sich vor, wobei er das steife Bein nach hinten ausstreckte, um bedächtig seine Bücher und Papiere wieder einzusammeln. Dann richtete er sich auf und schlurfte nach vorn, wobei die über den nackten Zement schleifenden Füße ein vernehmliches, durchdringendes Scharren erzeugten, das seltsam hohl und zischelnd klang. Er entschied sich für einen Stuhl in der ersten Reihe und setzte sich.
Nachdem Walker Platz genommen und seine Papiere und Bücher auf dem Pult geordnet hatte, fuhr Stoner fort: »Wir dürfen nicht vergessen, dass das mittelalterliche Verständnis von Grammatik noch allgemeiner als das im späten Griechenland oder in Rom war. Man meinte damit nicht nur die Wissenschaft der korrekten Rede und die Kunst der Textauslegung, sondern auch das, was wir heute unter Analogie verstehen, Etymologie, Methoden der Präsentation sowie der Konstruktion und Kondition poetischer Freizügigkeit und deren entsprechende Ausnahmen – sie beinhaltete selbst Metaphorik und Redewendungen.«
Während er fortfuhr, die genannten Kategorien der Grammatik weiter auszuführen, streifte Stoners Blick über die Studenten, und er bemerkte, dass er ihre Aufmerksamkeit durch Walkers Ankunft verloren hatte; bis er sie erneut aus sich herauslocken konnte, würde es eine Weile dauern, das war ihm klar. Immer wieder sah er neugierig zu Walker hinüber, der, nachdem er sich eine Weile eifrig Notizen gemacht hatte,nun langsam den Stift auf das Blatt sinken ließ, während er Stoner mit verwirrtem Stirnrunzeln betrachtete. Schließlich schoss seine Hand in die Höhe; Stoner beendete den Satz, den er angefangen hatte, und nickte ihm zu.
»Sir«, sagte Walker, »entschuldigen Sie, aber das verstehe ich nicht. Was kann …«, er legte eine Pause ein und ließ zu, dass sich seine Lippen um das nächste Wort kräuselten, »… Grammatik mit Lyrik zu tun haben? Fundamental, meine ich. Mit echter Lyrik.«
Besonnen antwortete Stoner: »Wie ich bereits vor Ihrer Ankunft erklärt habe, Mr Walker, verstanden sowohl die römischen wie die mittelalterlichen Rhetoriker unter ›Grammatik‹ weit mehr, als wir dies heutzutage tun. Für sie bedeutete …« Er hielt inne, als ihm auffiel, dass einige Studenten unruhig wurden, weil er im Begriff stand, den ersten Teil seines Vortrags zu wiederholen. »Nun, ich denke, dieser Bezug wird für Sie im weiteren Verlauf deutlich, wenn wir sehen werden, wie viel die Dichter und Theaterschriftsteller selbst der mittleren und späten Renaissance den lateinischen Rhetorikern verdankten.«
»Alle, Sir?« Walker lächelte und lehnte sich zurück. »War es nicht Samuel Johnson, der von Shakespeare sagte, er habe kaum Latein und noch weniger Griechisch gekonnt?«
Als ein unterdrücktes Lachen im Raum laut wurde, spürte Stoner, wie ihn eine Art Mitleid überkam. »Sie meinen natürlich Ben Jonson.«
Walker nahm die Brille ab, putzte sie und blinzelte hilflos. »Natürlich«, erwiderte er. »Ein Versprecher.«
Obwohl Walker ihn noch mehrfach unterbrach, gelang es Stoner, seinen Vortrag ohne allzu große Mühe zu Ende zu bringen und sogar Themen für die ersten Seminararbeiten zuverteilen. Er entließ die Studenten eine halbe Stunde früher und eilte zur Tür, als er sah,
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