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Stoner: Roman (German Edition)

Stoner: Roman (German Edition)

Titel: Stoner: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Williams
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sehen – offenkundiges Fehlverhalten –, irgendetwas dieser Art. Oh, er hat es ganzwunderbar eingefädelt; persönlich habe er nichts gegen sie, bewundere die junge Frau sogar, nur müsse er an den Ruf der Fakultät und der Universität denken. Also haben wir es bedauert, uns den Vorschriften einer Mittelklassemoral beugen zu müssen, waren uns einig, dass die Gemeinschaft der Gelehrten eigentlich allen Rebellen gegen die protestantische Ethik eine Zuflucht bieten müsse, und schlossen damit, dass uns praktisch gar keine andere Wahl bleibe. Er sagte, er hoffe es noch bis zum Semesterende laufen lassen zu können, bezweifelte dies aber. Und die ganze Zeit wusste dieser Hundesohn, dass wir einander nur zu genau verstanden.«
    Ein Kloß in der Kehle sorgte dafür, dass Stoner nicht antworten konnte. Er schluckte zweimal und probierte es dann erneut, seine Stimme klang flach und tonlos. »Was er will, ist natürlich vollkommen klar.«
    »Ich fürchte, das ist es«, erwiderte Finch.
    »Ich weiß ja, dass er mich hasst«, sagte Stoner wie in Gedanken, »aber ich hätte nie geglaubt … hätte mir nie träumen lassen, er würde …«
    »Ich auch nicht«, sagte Finch, ging wieder zum Schreibtisch und setzte sich schwerfällig. »Und ich kann gar nichts dagegen tun, Bill. Mir sind die Hände gebunden. Will Lomax Leute, die sich beschweren, werden sie sich melden, will er Zeugen, werden sie kommen. Er hat viele Anhänger, weißt du. Und wenn der Präsident davon Wind bekommt …« Er schüttelte den Kopf.
    »Was, glaubst du, passiert, wenn ich mich weigere, meine Stelle zu kündigen? Wenn wir uns weigern, uns vor ihm zu fürchten?«
    »Er wird die Driscoll kreuzigen«, sagte Finch tonlos. »Unddich wie zufällig in diese Sache verwickeln. Sehr sauber, das Ganze.«
    »Da kann man dann wohl nichts machen«, sagte Stoner.
    »Bill«, setzte Finch an und verstummte. Er senkte den Kopf auf die geballten Fäuste und sagte dann dumpf: »Es gibt noch eine Chance. Nur die eine. Ich denke, ich kann ihn hinhalten, wenn du … wenn die Driscoll einfach …«
    »Nein«, sagte Stoner. »Ich denke nicht, dass ich das kann. Ehrlich, ich glaube, das kann ich nicht.«
    »Gottverflucht!« Finch klang gequält. »Genau damit rechnet er ja. Denk doch mal einen Augenblick nach. Was willst du machen? Es ist April, fast Mai; was für eine Stelle würdest du um diese Jahreszeit bekommen – falls du denn überhaupt eine bekommst.«
    »Ich weiß nicht«, sagte Stoner, »irgendwas …«
    »Und was ist mit Edith? Glaubst du, sie wird sich einfach damit abfinden und kampflos in die Scheidung einwilligen? Und Grace? Was tust du ihr damit an, in dieser Stadt, wenn du einfach verschwindest? Und Katherine? Was für ein Leben hättet ihr? Wie würde es für euch beide werden?«
    Stoner sagte nichts. Irgendwo tief in ihm tat sich eine Leere auf; er spürte, wie etwas verdorrte, unterging. Schließlich sagte er: »Kannst du mir eine Woche Aufschub verschaffen? – Ich muss nachdenken. Eine Woche?«
    Finch nickte. »So lange kann ich ihn bestimmt hinhalten, allerdings nicht viel länger. Tut mir leid, Bill. Aber das weißt du ja.«
    »Ja.« Er erhob sich aus seinem Sessel und blieb einen Moment stehen, prüfte die Taubheit in seinen Beinen. »Ich gebe dir Bescheid. Ich gebe dir Bescheid, sobald ich etwas weiß.«
    Er trat aus dem Büro ins Dunkel des langen Flurs und ging mit schwerem Schritt ins Sonnenlicht, in die offene Welt, die für ihn ein Gefängnis war, wohin er sich auch wandte.
    *
    Wenn er Jahre später in seltenen Augenblicken an jene Tage zurückdachte, die auf seine Unterhaltung mit Gordon Finch folgten, würde er sich nicht besonders deutlich daran erinnern können. Er hatte sich wie ein Toter gefühlt, der nur noch von einer vertrauten, entschlossenen Sturköpfigkeit angetrieben wurde. Und doch war er sich seiner selbst sowie der Orte, Personen und Ereignisse, die in jenen wenigen Tagen an ihm vorüberzogen, nur allzu bewusst gewesen, hatte gespürt, dass er der Öffentlichkeit einen Anblick bot, der seinen Zustand Lügen strafte. Er hielt Vorlesungen, grüßte Kollegen, kam zu den Sitzungen, an denen er teilnehmen musste – und keiner der Leute, die er tagtäglich traf, ahnte, dass irgendetwas nicht stimmte.
    Von dem Moment aber, da er Gordon Finchs Büro verließ, wusste er irgendwo innerhalb der Taubheit, die sich von dem kleinen Kern seines Wesens her ausbreitete, dass ein Abschnitt seines Lebens vorüber war, dass ein Teil von ihm dem Tod

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