Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stoner: Roman (German Edition)

Stoner: Roman (German Edition)

Titel: Stoner: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Williams
Vom Netzwerk:
im Dunkeln an und ging hinaus, ohne sie zu wecken. Er wanderte durch die stillen, leeren Straßen von Columbia, bis im Osten das erste graue Licht aufkam, dann ging er zum Campus, setzte sich auf die Steinstufen vor Jesse Hall und sah dem Licht aus dem Osten zu, wie es langsam die großen Marmorsäulen mitten auf dem Platz hinaufkroch. Er dachte an den Brand, der, ehe er geboren wurde, das alte Gebäude zerstört hatte, und beim Anblick der Überreste überkam ihn eine leise Trauer. Als es schließlich hell war, verschaffte er sich Einlass in die Universität und ging in sein Büro, wo er wartete, bis sein erstes Seminar begann.
    Er sollte Katherine Driscoll nie wiedersehen. Nachdem er sie nachts verlassen hatte, stand sie auf, packte all ihre Habe zusammen, räumte die Bücher in Kisten und hinterlegte dem Vermieter eine Notiz, wohin er sie nachsenden möge. DemSekretariat schickte sie die Benotungen, die Anweisung, ihre Seminarstudenten für die anderthalb Wochen bis Semesterende zu beurlauben, sowie ihr Entlassungsgesuch. Und um zwei Uhr nachmittags saß sie in einem Zug, der sie aus Columbia fortbrachte.
    Stoner begriff, dass sie ihre Abreise schon eine Weile geplant haben musste; und er war ihr dankbar dafür, dass er nichts davon gewusst hatte, auch dafür, dass sie ihm keinen Abschiedsbrief hinterließ, der in Worten zu sagen versuchte, was nicht in Worte zu fassen war.

XIV
    IN JENEN SOMMERFERIEN LEHRTE ER NICHT und war zum ersten Mal in seinem Leben krank. Er litt an einem hohen Fieber unbestimmter Ursache, das eine Woche anhielt, ihm aber alle Kraft raubte. Er nahm stark ab, und zu den Nachwirkungen des Fiebers zählte auch, dass er teilweise sein Gehör verlor. Den ganzen Sommer über war er so schwach und lustlos, dass er nur wenige Schritte gehen konnte, ehe er erschöpft innehalten musste; und er verbrachte nahezu die ganze Zeit in dem kleinen Wintergarten hinten im Haus, lag auf dem Schlafsofa oder saß in dem alten Sessel, den er aus dem Keller hatte heraufbringen lassen. Er starrte aus den Fenstern oder an die Holzdecke, und hin und wieder raffte er sich auf, um in die Küche zu gehen und einen Happen zu essen.
    Er besaß kaum genügend Energie, sich mit Edith oder Grace zu unterhalten – auch wenn Edith manchmal in sein Zimmer kam, einige Minuten über Belangloses plauderte und dann ebenso abrupt wieder verschwand, wie sie bei ihm eingedrungen war.
    Einmal, mitten im Sommer, erwähnte sie Katherine.
    »Ich habe es erst vor ein, zwei Tagen gehört«, sagte sie. »Deine kleine Studentin ist also wieder verschwunden?«
    Nur mit Mühe konnte er seine Aufmerksamkeit vom Fensterabwenden und sich zu Edith umdrehen. »Ja«, antwortete er geduldig.
    »Wie heißt sie noch?«, fragte Edith. »Ich kann mir ihren Namen einfach nicht merken.«
    »Katherine«, sagte er. »Katherine Driscoll.«
    »Richtig«, sagte Edith. »Katherine Driscoll. Nun, hatte ich nicht recht? Ich habe es doch gesagt, nicht? So etwas ist einfach nicht wichtig.«
    Er nickte zerstreut. Draußen, in der alten Ulme, die sich an den hinteren Zaun lehnte, hatte ein großer schwarz-weißer Vogel – eine Elster – zu tschirpen begonnen. Er hörte ihren Ruf und beobachtete mit entrückter Faszination, wie sie mit weit offenem Schnabel ihren einsamen Schrei ausstieß.
    Er war in jenem Sommer rapide gealtert, sodass es im Herbst, als er an die Universität zurückkehrte, nur wenige gab, die nicht überrascht zusammenzuckten, als sie ihn wiedersahen. Tiefe Furchen durchzogen das hager und knochig gewordene Gesicht; im Haar zeigten sich breite graue Streifen, und er ging so stark gebeugt, als trüge er eine unsichtbare Last. Die Stimme war rauer geworden und klang etwas brüsk. Zudem besaß er die Angewohnheit, sein Gegenüber mit gesenktem Kopf anzustarren, der Blick aus den klaren grauen Augen unter zerzausten Brauen übellaunig und scharf. Er sprach nur selten mit jemand anderem als seinen Studenten, und auf eine Frage oder einen Gruß reagierte er oft ungeduldig und manchmal recht barsch.
    Er erledigte seine Arbeit so hartnäckig und verbissen, dass es seine älteren Kollegen amüsierte und die jüngeren verärgerte, die, wie er selbst, nur Einführungskurse gaben. Stundenlang korrigierte und benotete er Erstsemesterarbeiten, hielt jeden Tag Sprechstunden ab und ging zuverlässig zuallen Fachbereichstreffen. Auf diesen Sitzungen öffnete er nur selten den Mund, doch wenn er es tat, dann redete er ohne Takt und Rücksicht, weshalb er sich unter

Weitere Kostenlose Bücher