Stossgebete - Ein Krimi aus dem Bayerischen Wald
berichtete noch einmal von dem Eintrag in dem Terminbüchlein. »Gibt es noch mehr Unterlagen aus jener Zeit? Dann könnte man den kompletten Namen und die Adresse des Mädchens feststellen. Das würde der Polizei ungemein helfen.«
»Bedaure, wie schon gesagt, die alten Krankenakten habe ich längst schreddern lassen. Ein Hausarzt ist sowieso die falsche Adresse für einen Schwangerschaftsabbruch«, sagte Knoll. »Erstens gibt es dafür spezialisierte Beratungsstellen, und zweitens könnte er, selbst wenn er wollte, gar keinen Eingriff vornehmen. Dazu schickt man die Betroffenen ins Krankenhaus.«
»Apropos, ich soll Sie von Pater Pretorius grüßen. Er sieht noch ziemlich mitgenommen aus und würde sich am liebsten selbst entlassen, aber ich denke, es wäre heilsamer, wenn er sich dort noch einige Tage ausruht und nicht schon wieder mit der Arbeit beginnt. Er ist ein so fleißiger Mensch, der Pater.«
»Ganz meine Meinung. Mit einer Gehirnerschütterung ist nicht zu spaßen. Ich rede mit den Kollegen, bei denen ist er in guten Händen. Ich bin der Meinung …« Das Telefonklingeln unterbrach ihn. »Ja, Doktor Knoll selbst am Apparat.« Eine Zeitlang hörte der Arzt nur zu, seine Miene verdüsterte sich. »Natürlich, ich komme sofort.« Er sprang auf. »Tut mir leid, Hochwürden, ich muss los. Ein Notfall.«
»Was ist denn passiert?«
»Eine Seniorin ist zusammengebrochen, Sie kennen sie, die alte Frau Bichlmeier. Während eines Spaziergangs.«
»Walburga Bichlmeier? Ich wollte sie die nächsten Tage besuchen. Kann ich mitkommen?«
»Lieber nicht. Das ist Sache des Arztes. Sie können mir nicht helfen.«
»Ich bin Pfarrer und Seelsorger. Und Frau Bichlmeier ist sehr religiös. Falls die Dame geistlichen Beistand braucht, Sie wissen schon …«
»Also gut. Kommen Sie!«
Sie fuhren über die Landstraße, die zum nächsten Ort führte, und bogen ab. »Wer hat denn angerufen?«, fragte Baltasar.
»Gabriele Fink. Sie war gerade auf dem Heimweg.«
Die Frau erwartete sie bereits am Wegrand. Es war dieselbe Route, die Baltasar genommen hatte, als er die Finks besucht hatte. Weiter vorn musste die Abzweigung sein und die Stelle mit den Totenbrettern und dem Fundort des Skeletts. Gabriele Fink war überrascht, auch ihn zu sehen, aber sie war zu aufgeregt, um etwas zu sagen, und zeigte stattdessen auf eine Stelle im Straßengraben.
Dort, halb vom Gras verborgen, lag eine Frau mit dem Gesicht zum Boden. Sie rührte sich nicht. Das schwarze Kopftuch hatte sich gelöst und gab den Blick frei auf ein graues Haarbüschel. Das schwarze Kleid war verrutscht, darunter lugten grobe Wollstrümpfe und Sandalen hervor. Einige Meter entfernt lag ein Spazierstock, wie ihn die alte Frau immer benutzt hatte.
Doktor Knoll stieg in den Graben und kniete sich hin. Er fühlte den Puls an der Halsschlagader. Dann drehte er die Frau auf den Rücken, holte ein Stethoskop und horchte das Herz ab. Er nahm einen Taschenspiegel und hielt ihn ihr direkt unter die Nase, um festzustellen, ob er durch den Atem beschlug. Er sah auf und schüttelte den Kopf.
Walburga Bichlmeier war tot.
Baltasar sprach ein Gebet für sie, dachte an ihre letzte Begegnung, an ihre Mariengläubigkeit und ihre Angst vor der Wahrheit. Was hatte sie sich nicht getraut, ihm zu erzählen? Wen wollte sie um Rat fragen? Und warum machte sie sich zu Fuß auf in Richtung der Finks, in Richtung Totenbretter? Sie konnte nicht gut gehen, brauchte immer ihren Stock, und der Weg hierher war beschwerlich. Oder hatte sie jemand mit dem Auto mitgenommen?
Was ihn viel mehr beschäftigte, war der angstvolle Ausdruck in den Augen der Toten. Das ganze Gesicht war verklebt mit Erde und Gras, der Mund war weit aufgerissen.
Es war klar: Hier stimmte etwas nicht. »Wir müssen die Polizei anrufen«, sagte Baltasar.
37
D ie Straße war in beiden Richtungen gesperrt, Polizeiwagen blockierten die Zufahrt, Absperrbänder hielten Neugierige fern. Kommissar Dix begrüßte Baltasar.
»Sie schon wieder, uns bleibt auch nichts erspart«, zischte Oliver Mirwald im Vorbeigehen. Er nahm die Aussagen von Gabriele Fink und Doktor Knoll auf.
»Denken Sie sich nichts dabei, Herr Pfarrer, mein Assistent ist heute nicht gut aufgelegt.« Der Kripobeamte gab dem Ermittlungsteam Anweisungen. »Herr Mirwald hat eben keinen Sinn für die gute Luft und die herrliche Landschaft hier. Er ist noch nicht akklimatisiert, wie Sie wissen, solchen Menschen muss man einiges nachsehen. Das ist wie der Jetlag beim
Weitere Kostenlose Bücher