Sträfliche Neugier
sechsundzwanzig Jahre alt und führte schon seit einigen
Wochen den Haushalt der Familie Herzog. Die Abende verbrachte sie meistens in
ihrem Appartement, aber oft fühlte sie sich einsam und sehnte sich dann nach
Abwechslung.
Von der liebenswürdigen Art ihres Arbeitgebers war sie sehr
angetan. Sie bewunderte ihn sehr, zumal er ein stattlicher und gut aussehender
Mann war. An seiner Seite hätte sie sich glücklich fühlen können, doch Ludwig
Herzog schien sich nur für seine Arbeit und die beiden Kinder zu interessieren.
Aber vielleicht hatte er die Trauer um den Tod seiner Cornelia noch nicht ganz
überwunden, sodass eine neue Beziehung für ihn vorerst nicht in Betracht kam.
Darum wollte sich Julia auch keine Hoffnungen machen und
besuchte hin und wieder eine beliebte Burgstädter Discothek. Dort lernte sie
einen Mann kennen, den sie als gleichaltrig einschätzte. Er hatte schwarze,
strähnige Haare und stellte sich als Tim Lorenz vor. Julia fand
ihn sympathisch, denn er strahlte viel Frohsinn aus. Allerdings konnte sie
nicht ahnen, dass sich Tim aus eigennützigen Motiven an sie heranmachte. Er
hatte nämlich erfahren, dass sie die Haushälterin des Apothekers Herzog war und
hoffte, über sie an die silberne Schatulle zu gelangen. Er wollte gern einmal
selbst ausprobieren, was es mit den darin enthaltenen Substanzen auf sich
hatte. Durch Max Berger hatte er nämlich von dem geheimnisvollen Inhalt der
Schatulle erfahren und sich dabei gedacht: ›Wenn ich doch nur an diese
Stoffe käme, was alles könnte ich damit anfangen!‹
Wegen des höllischen Lärms, den die voll aufgedrehte
Musikanlage der Discothek verbreitete, wechselten sie in ein kleines
Restaurant, um sich dort ungestörter unterhalten zu können.
»Mein richtiger Name ist übrigens Timotheus. Ich finde
diesen Namen schrecklich. Aber alle meine Freunde nennen mich Tim, das klingt
doch viel besser, nicht wahr?«
»Also gut, Tim, und für dich bin ich die Julia, okay?«
»Klarissimo, Julia. Der Name gefällt mir übrigens sehr gut
und passt auch zu dir.«
Im Verlauf des Abends verlor Julia ihre Scheu und begann
von sich zu erzählen. Seit dem Tod ihrer Eltern hatte sie sich keinem Menschen
mehr anvertraut. Aber offenbar gab es jetzt jemand, der sich für ihr Schicksal
zu interessieren schien. Daher erwähnte sie auch die von Doktor Curtius entwickelten
Substanzen.
»Dieser Mann trägt die Verantwortung am Verschwinden meines
Bruders Robby und wurde aus dem Schuldienst entlassen. Aber auch ich trage
Schuld daran, denn ich hatte niemandem anvertraut, auf welches Abenteuer wir
uns da einlassen wollten. Dieser verrückte Doktor beabsichtigte, mit uns in
einen Hummelbau zu kriechen. Aber nicht etwa von oben her, sondern wir hätten
direkt in so ein Nest hineinkriechen sollen. Zu diesem Zweck wollte er uns bis
auf Ameisengröße verkleinern. Meine Eltern waren leider verreist, aber ich
hätte alles meiner Tante Laura erzählen sollen, dann wäre dieser Sonderling
vielleicht schon vorher aus dem Verkehr gezogen worden. Aber so hat kein Mensch
jemals erfahren, was er tatsächlich vorhatte. Wir mussten ihm nämlich versprechen,
über seine Vorhaben Stillschweigen zu bewahren. Ich hielt also meinen Mund,
schon um nicht für verrückt oder übergeschnappt erklärt zu werden.
Wegen des schlechten Wetters war die geplante Expedition
schon mehrfach verschoben worden. Als es dann endlich losgehen sollte, waren
Doktor Curtius die Kapseln ausgegangen, die wir für die Rückkehr zu unserer
normalen Größe benötigten. Als Trostpflaster hat uns dieser Mensch dann einen
Oktoberfest-Bummel spendiert. Während einer Achterbahnfahrt verschwand mein
Bruder plötzlich und spurlos. Das ist doch seltsam, nicht wahr? Nach dem Tod
von Doktor Curtius fand ich dann zufällig in seinem Tagebuch einige
Aufzeichnungen über diesen Vorfall. Demnach wäre Robby bei voller Fahrt aus dem
Wagen der Achterbahn gefallen. Aber wenn dem so gewesen wäre, hätte man ihn
doch unten finden müssen. Vielleicht wollte Doktor Curtius nur eine falsche
Spur legen. Ich bin jedenfalls nie den Verdacht los geworden, dass mein Bruder
heimlich etwas von den Verkleinerungsmitteln eingenommen hatte und dann bis zur
Ameisengröße schrumpfte. Ein grauenvoller Gedanke!«
Julia hatte sich in Rage geredet und musste sich
Schweißperlen von der Stirn wischen. Tim hatte ihr aufmerksam zugehört und
fragte: »Habt ihr eigentlich diese sonderbaren Substanzen mal zu Gesicht
bekommen, die ihr für
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