Straight White Male: Roman (German Edition)
Paradieses in erschreckender Klarheit vor Augen. Er sah sich in einem trostlosen Büro, wie er eine Kurzgeschichte las, die weiß Gott wo spielte. Vielleicht im Nachkriegspolen? Oder um 1900 im kanadischen Hinterland? Es klopfte an der Tür. Ein talentfreier Mittzwanziger trat ein und brabbelte darüber, was er mit seinem Geschreibsel hatte »aussagen wollen«. Er sah die Pubs und Restaurants des ländlichen Warwickshire: totgegarte Steaks und weit und breit niemand, der einem das Auto parkte. Er sah sich in irgendeinem Aufenthaltsraum, wie er einer Diskussion über Dekonstruktivismus lauschte. Oder war es Kritische Theorie? Derrida und Lacan? Setzte man sich an Universitäten heute immer noch mit diesem Zeug auseinander? Er sah Robin und Millie. Patrick und Mum. Sich selbst im Flieger nach Dublin, den er fraglos alle paar Wochen würde nehmen müssen. Mitten im Winter sah er sich in einer Maschine voller Pendler morgens um sieben in Heathrow auf dem Rollfeld stehen. Und dann die endlose Taxifahrt zu Patricks Haus durch all diese tristen Sozialbausiedlungen. O Gott.
»Nein. Keine Chance. Ich bin raus.«
»Na schön«, sagte Braden. »Dann heißt es wohl ›Hallo Eigentumswohnung‹. Ich beauftrage einen Makler mit dem Verkauf des Hauses und checke, wie wir deine privaten Ausgaben so weit wie möglich runterfahren können. Wenn wir die nächsten paar Jahre kräftig die Zähne zusammenbeißen, dann kriegen wir das möglicherweise hin.«
»Ach, jetzt sei doch nicht so melodramatisch«, erwiderte Kennedy und blickte auf die Uhr. »Hört mal, ich muss jetzt wirklich weiter.«
»Oder du schreibst den Roman fertig«, schlug Connie vor.
Kennedy schlug die Hände über dem Kopf zusammen und gab ein tiefes Knurren von sich. Er musste wirklich dringend pinkeln. »Es muss doch noch irgendwas anderes geben«, sagte er. »Fernsehen. Lasst uns eine Show pitchen. Einen Piloten schreiben.«
»In Ordnung. Wie sieht deine Idee aus?«, fragte Braden.
»Was weiß denn ich? Wen kümmert das? Ein paar Schlampen teilen sich eine Bude. Nein, wartet. Eine ist prüde und die andere eine Schlampe. Die Schlampe bequatscht die Prüde, zur Schlampe zu werden.«
»Alle Achtung«, sagte Braden mit einem Anflug von Ironie. »Hast du schon einen Titel?«
» Schlampen ?«, fragte Kennedy hoffnungsvoll.
»Mein Gott«, stöhnte Braden.
»Jetzt komm schon. Wäre es denn wirklich so schrecklich?«, fragte Connie. »Es sind doch nur neun Monate. Und du könntest so viel näher bei deiner Familie sein. Bei Millie und Robin. Deiner Mutter geht es nicht so …«
»Connie, es reicht jetzt«, raunzte Kennedy sie an.
»Oder«, bemühte Connie sich weiter, »wäre es nicht nett, na ja, du weißt schon« – ihr wurde klar, dass es wirklich keinen anderen Weg gab, das zu formulieren – »den Menschen auch mal was zurückzugeben?«
Jetzt war Kennedy an der Reihe. »Werd mal erwachsen«, sagte er.
sechzehn
Wie immer spät dran, quetschte sich Kennedy schwitzend und in höchster Not durch das Gedrängel im Buchladen. Ein Gedrängel, das sich, wie ihm auffiel, offenbar nahezu gänzlich aus Frauen zusammensetzte. Welcher Idiot ließ sich freiwillig für Lesungen, Reden, Panels und Talks buchen? Warum nahm man solche Jobs überhaupt an? Laut Kingsley Amis aus den üblichen Gründen: einer »Mischung aus Neugierde und Eitelkeit«. Und in Kennedys Fall, das musste gesagt werden, kam noch Begierde hinzu. Das Objekt seiner Begierde, die Dichterin höchstselbst, lächelte und winkte ihm jetzt vom Aufgang der improvisierten Bühne aus zu, wo die Organisatoren der Veranstaltung auf sie einredeten: zwei derb aussehende Dampfwalzen mit Meckifrisuren, die schwer auf die sechzig zugingen und deren Latzhosen aussahen, als wären sie aus Sackleinen. Was die beiden nicht davon abhielt, sie mit Bikerstiefeln zu kombinieren. Kennedy hatte sich nach reiflicher Überlegung für einen schwarzen Zwei-Knopf-Anzug von Paul Smith entschieden.
Kennedy Marr und seine Anzüge …
An einem erquickenden Cuba Libre nippend, hatte Kennedy an diesem Morgen den Inhalt seines begehbaren Kleiderschranks begutachtet. Die Eiswürfel klingelten glockenhell in dem schweren Kristalltumbler, während er sich überlegte, was wohl die angemessene Garderobe für eine feministische Dichterlesung wäre. Saskia Krams dünnes Gedichtbändchen lag derweil unbeachtet auf dem Bett.
Mit kritischem Blick hatte er die Stange mit den Anzügen gemustert: eine Armee der Gehängten, allesamt schuldig. Jener
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