Straight White Male: Roman (German Edition)
anstimmte. Blickte Kennedy mal einer der Frauen in die Augen, dann schlug ihm eine derart heftige Antipathie entgegen, dass auf dem Namensschild vor ihm auch »Mr. Vergewaltiger« hätte stehen können.
Das hier war eine wütende, hochgradig politisierte Welt. Eine Welt, die sich selbst mit Akronymen abstempelte. Die nichts Besseres zu tun hatte, als nach Diskriminierungen zu suchen. Die Welt der NW (Non-White), WoC (Women of Color), TERF (Trans Exclusionary Radical Feminists) und BME (Black and Minority Ethnic). Eine Welt voller Menschen, die Neologismen so inflationär prägten, wie in der Weimarer Republik Banknoten gedruckt wurden, und die ihre hasserfüllten Essays, Blogs und Gedichte sogar unentgeltlich schrieben. Von seiner Warte aus betrachtet – der eines weißen Mannes in einem teuren Anzug hoch oben auf einer Bühne, der mit funktionsfähigen Gliedmaßen, einer von der Begierde aufs eigene Geschlecht unbehelligten Psyche, einem von Titten, Uterus und Eierstöcken unbelasteten Körper sowie einem siebenstelligen Jahreseinkommen gesegnet war, der Warte eines echten Spitzenprädators also – sah das nicht gerade nach Spaß aus.
Kennedy überdachte kurz seine privilegierte Situation und befand sie für gut.
Aber was um Gottes willen ging da in seinen Eingeweiden vor? Seine Blase, die sich in ihrem Expansionsdrang längst den Magen einverleibt hatte, schien gerade zum Sturmangriff auf Lunge, Brustkorb und Kehle überzugehen. Er traute sich kaum, den Mund zu öffnen, vor lauter Angst, dass sich ein Sturzbach aus Urin daraus ergießen könnte. Er fühlte sich wie ein kurz vor dem Platzen stehender Sack Pisse. Seine Fußballen trommelten leise gegen den Bühnenboden, hin und wieder entfuhr ihm ein leises Quieken oder Stöhnen.
Endlich brach das Publikum in tosenden Jubel und Applaus aus, in den Kennedy begeistert mit einfiel – unendlich dankbar für die Gelegenheit, sich bewegen und seine Qualen unbemerkt hinausbrüllen zu können. Er wollte eben aufstehen, da sagte Saskia: »Das nächste Gedicht habe ich vor drei Jahren geschrieben, als ich …«
Langsam ließ er sich wieder auf seinen Stuhl sinken, und allein diese Bewegung presste den Urin bis in den Schaft seines Penis. Zwischen ihm und DEFCON 1 stand nur noch das schreckliche Ächzen in seinen Eiern und seiner Harnröhre. Bunte Lichter flimmerten vor seinen Augen. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er stützte sich auf den Tisch und legte den Kopf in die Hände, wobei es ihm ziemlich überzeugend gelang, den Eindruck zu erwecken, er würde sich voll und ganz auf das Gedicht konzentrieren, das Saskia gerade vortrug: »Ich bat ihn, zerreiß mich, und er riss, er riss, er riss …« Dabei hätte sie in Wahrheit nackt auf dem Tisch liegen und es sich mit einem sechzig Zentimeter langen Freudenspender besorgen können – es wäre ihm egal gewesen. Die Augen fest geschlossen, wiederholte er im Geiste ein ums andere Mal das Mantra »Halt-ein-halt-ein-halt-ein …«. Über die Leinwand hinter seinen Lidern flimmerten allmählich befremdlich klare Visionen: Er, noch ein Knirps, wie er zu Füßen seiner Mutter auf dem Küchenboden saß und ein Butterbrot mampfte. Dann saß er, vielleicht acht oder neun Jahre alt, auf dem Fahrrad und strampelte durch die Straßen von Limerick. Er sah sich in der vierten Klasse, wie er Joanna Mulreany anstierte, und im Lesesaal der Universität von Glasgow, wo er sich über seine Bücher gebeugt auf die Abschlussprüfung vorbereitete. Und im Bett. Mit Millie und der kleinen Robin schmusend.
Kennedy begriff, dass es sein ganzes Leben war, das da gerade vor seinem inneren Auge vorbeizog.
Dann war Gott sei Dank tatsächlich alles vorbei. Das Publikum applaudierte und erhob sich. Kennedy stand ebenfalls auf, inzwischen zum dritten Mal, als er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter spürte. Willow – oder Janet – drückte ihn mit Gewalt wieder in den Stuhl, griff um ihn herum nach dem Mikrofon und sagte: »Vielen Dank, Saskia. Hat denn noch jemand Fragen?«
DEFCON 1.
Während ein Meer von Händen in die Höhe schoss, dachte Kennedy so etwas wie: Ach, scheiß drauf. Was folgte, war die schiere, grenzenlose Erleichterung. Diese Wärme, diese Erlösung. Da konnte der schönste Orgasmus nicht mithalten. Er spürte, wie es seinen rechten Oberschenkel hinunterlief, über seinen Hintern und seine Beine bis in die Schuhe. Es hörte gar nicht mehr auf. Es fühlte sich an wie zwei oder drei Liter. Und Kennedy Marr saß einfach nur
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