Straight White Male: Roman (German Edition)
in den Augen.
Es war dunkel, als er sie vor ihrer Wohnung absetzte. Sie wollte gerade aus dem Auto steigen. Kennedy legte ihr aus einem Impuls heraus die Hand auf die Schulter. »Warte. Hier.« Er gab ihr das gesamte Bargeld, das er noch im Portemonnaie hatte, ein paar Hundert Pfund. Sie küsste ihn auf die Wange und ließ die Scheine in ihrer Tasche verschwinden. »Ich hab’s total vermasselt«, sagte sie. »Besser, du vergisst mich einfach.«
Er blickte ihr nach, wie sie die Haustür öffnete, das Treppenhaus hinaufging und in ihrer armseligen kleinen Wohnung verschwand. Bye-bye, Kenny, bye-bye. So hatte sie immer am Fenster gestanden und ihm gewinkt, wenn er zur Schule gegangen war. Er war fünf oder sechs, sie drei oder vier gewesen. Ein Hosenmatz in einem flauschigen gelben Strampelanzug. Beim Winken hatte sie ihre winzigen Fingerchen nur ganz leicht gebogen. Bye-bye, Gerry, bye-bye.
Kennedy wischte sich über den Mund, legte seine Serviette über die Seebrassengräten und blickte zu Curzon hinüber, der immer noch von der »Botschaft« des Films schwafelte. Er beugte sich über den Tisch und unterbrach ihn. »Die Botschaft des Films? Die verdammte … Michael, wissen Sie überhaupt, was Drama ist? Was Kunst ist? Was sie kann? Oder besser, was sie können sollte?«
»He!«, echauffierte sich Curzon, »ich bin zwar kein Schriftsteller, aber …«
Kennedy hob eine Hand. »Dann definieren Sie doch mal ›die Botschaft des Films‹ für mich.«
Einen Augenblick lang glotzte Curzon ihn völlig perplex an, als hätte ihn der Lehrer an die Tafel gerufen. Er konnte seine Verärgerung kaum verhehlen. Kennedy stellte sich die Stapel voller Drehbücher neben Curzons Bett vor. Ein einsames Selbsthilfebuch. Ein paar ungelesene Romane.
»Hören Sie …«, setzte Curzon an.
Kennedy schnitt ihm das Wort ab. »Sinn und Zweck von Kunst ist es, Vergnügen zu bereiten. Nicht aufzuklären. Nicht zu belehren. Gewisse Männer und Frauen «, Kennedy blickte an dem Jungen vorbei in den Spiegel hinter ihm an der Wand, in sein eigenes müdes, von ersten Falten durchzogenes, nicht mehr ganz frisches Gesicht, und fuhr fort, David Mamet zu zitieren, »deren Kunst uns Vergnügen bereiten kann, sind davon freigestellt worden, Wasser holen und Holz schleppen zu müssen.« Wieder beugte er sich vor und rückte, die Ellbogen auf dem Tisch, noch näher an den Schauspieler heran. »Künstler fragen sich nicht: ›Wozu ist das gut?‹ Ihr Antrieb ist nicht, Menschen zu helfen oder Geld zu machen. Ihr Antrieb ist es, die Last des unerträglichen Missverhältnisses zwischen ihrem Bewusstsein und ihrem Unterbewusstsein zu verringern, um so Frieden zu finden.«
Der gelbe Strampelanzug. Ihre Haut – danach.
Kennedy lehnte sich zurück und leerte sein Weinglas.
»Wow«, sagte Curzon, »das ist wunderschön. Stammt das von Ihnen?«
»Klar«, antwortete Kennedy, den gekreuzten Ring- und Mittelfinger erhoben, um dem Kellner zu signalisieren, dass er zahlen wollte. »Und ob das von mir ist.«
Dabei begegnete sein Blick dem einer jungen Frau Anfang zwanzig – ganz sicher ein Model –, die sein Lächeln erwiderte, ohne noch Augen für ihren Tischpartner zu haben. Kennedy musste zugeben, dass es offenbar auch Vorteile hatte, mit Filmstars essen zu gehen.
»War alles zu Ihrer Zufriedenheit?«, fragte der Kellner.
»Danke«, sagte Kennedy. »Die Rechnung, bitte.«
Der Kellner nickte und bedeutete einem Hilfskellner, den Tisch abzuräumen. Und da passierte es: Es war bloß ein kurzer, kaum wahrnehmbarer Blick, den Curzon mit dem Kellner wechselte. Ein verhaltenes, flüchtiges Lächeln.
Aha, dachte Kennedy. Jetzt wusste er, warum es diesem Kerl so verdammt wichtig war, auf der Leinwand eine Frau zu vögeln.
neunzehn
Es war bereits spät, doch Dr. Dennis Drummond saß immer noch im Büro und arbeitete. Mitten auf seinem Schreibtisch lag im warmen Licht der Federzuglampe die Pressemappe, die Kennedys Verlag ihm hatte zukommen lassen. Sie war dick wie ein Telefonbuch, und die darin versammelten Artikel deckten von der Veröffentlichung seines Romandebüts im Jahr 1997 bis zu seiner erst jüngst erfolgten Verhaftung nach einer Kneipenschlägerei eine Spanne von sechzehn Jahren ab.
Drummonds eigene Pressemappe hätte eine wesentlich knappere Lektüre ergeben. Sie war bestenfalls eine Kurzgeschichte oder ein Pamphlet, verglichen mit dem vor ihm liegenden Moby Dick der Pressemappen. Er hatte drei Romane geschrieben: Die Kreisverteidigung (Picador,
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