Straight White Male: Roman (German Edition)
Zügen, da zog sie ihre Schlüsse aus diesen Textnachrichten, E-Mails und aus den Quittungen, die sie in seiner Brieftasche gefunden hatte. Er wurde gefragt, was er dabei empfinde. Was er glaube, warum er all das getan habe. Die Therapeutin sprach vom »Bankkonto« des Vertrauens. Davon, dass es sehr lange dauern würde, auf diesem Konto ein Guthaben anzusparen, und wie schnell dieses Guthaben mit nur einer großen Abhebung aufgebraucht sei. Ihre Wortwahl entlockte Kennedy im Stillen ein bitteres Lachen. Millie nannte ihn ein »mieses Arschloch«. Sie sagte, dass sie sich wünschte, ihm niemals begegnet zu sein.
Und die ganze Zeit hatte Kennedy traurig genickt. Er hatte vorgegeben, über eine Antwort nachzudenken, auf den dahinschleichenden großen Zeiger der Uhr geschielt und bei sich selbst gedacht: Und wieder ein Stückchen näher. Wie alles andere ist auch das hier irgendwann vorbei. Er hatte »Ich verstehe« und »Tatsächlich?« gemurmelt. Oder gelegentlich ein »Oha«, nach einer der größeren Geistlosigkeiten der Therapeutin. Ein paarmal hatte er sogar zu weinen versucht und das bemüht, was Schauspieler »erinnerte Emotionen« nennen. Erst danach war ihm aufgegangen, wie unglaublich absurd es war, sich auf erinnerte Emotionen zu stützen, wenn die tatsächlichen Gefühle einen zu überwältigen drohten. Weil der Mensch, der einen geliebt, einem ein Kind geboren, einen ein halbes Jahrzehnt lang durchgefüttert hatte, während man selbst damit beschäftigt war, zu Papier zu bringen, was immer man der Welt zu sagen hatte, weil dieser Mensch keinen Meter von einem entfernt saß, während ihm das Herz brach. Einige Monate danach hatte Kennedy in seinem Notizbuch den Satz »Sollte uns das pastellgrüne Poster mit den Seemöwen einlullen?« gefunden und erkannt, dass er sich offenbar seine Eindrücke der Praxis notiert hatte, um sie gegebenenfalls irgendwann in einem Roman zu verwenden: Graham Greenes sprichwörtlicher Eissplitter im Herzen.
Viele Male war in diesem Zimmer das Bedürfnis nach »Aufrichtigkeit« bemüht worden. Kennedy beschlich damals die Überzeugung, dass Aufrichtigkeit in Beziehungen in Wahrheit genauso erwünscht war wie jene Aufrichtigkeit, die manche Menschen von einem einforderten, wenn sie einen darum baten, ihre unveröffentlichten Manuskripte oder nicht verfilmten Drehbücher zu lesen. Soll heißen: eigentlich gar nicht. Was sie hören wollten, waren Floskeln wie »Toll, das hat wirklich großartige Momente, vielleicht probierst du mal …« oder »Du bist eindeutig talentiert. Du brauchst bloß noch ein wenig …«. Oder etwas in der Art. Was sie definitiv nicht wollten, war Aufrichtigkeit. Denn Aufrichtigkeit hieß in neunundneunzig Prozent aller Fälle: »Bitte nimm nie wieder einen Stift in die Hand.« Es hieß: »Du hast nicht das geringste Talent. Tu dir selbst einen Gefallen und bau Modellflugzeuge, mach einen Kochkurs, bastele Eiffeltürme aus Streichhölzern oder mach irgendeinen anderen Scheiß.« Diese Leute auf den Dinnerpartys, bei Premierenfeiern oder Hochzeiten, mit ihren Treatments, ihren Drehbüchern und ihren Romanen, sie wollten keine Aufrichtigkeit. Sie hatten sich vorgenommen, die Wirklichkeit zu schildern, irgendeinen Aspekt des menschlichen Befindens zu kommentieren oder einzufangen, wie Menschen miteinander sprachen – und hatten dabei schrecklich versagt. Man hatte sie gewogen und für zu leicht befunden. Ihre Bemühungen waren ohne Belang . Wie die von Dr. Drummond, deren Ergebnis, ein einsames Exemplar von Die Kreisverteidigung , nun in dessen Büro Staub ansetzte.
Was diese Leute hören wollten, war: »Bleib dran.« Oder: »Ich hab das alles nicht gewollt. Und sie sicher auch nicht. Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht.«
Aufrichtig wäre hingegen das hier gewesen: »Vertrauen ist ein Bankkonto? Ist es das? Ist es das wirklich, du geistig zurückgebliebene Lesbe? Und ich Idiot habe gedacht, es wäre bloß ein groteskes gutbürgerliches Verfahren, sich mit Schuld zu beladen. Denn wen kümmert es schon? Oder, existenzialistisch formuliert: Welchen Arsch interessiert das? Ob du fremdfickst oder nicht fremdfickst. Die Erde dreht sich weiter, und jeder hier in diesem Zimmer wird in sechzig Jahren zu Staub zerfallen sein. Ich habe meinen Vater sterben sehen, habe gesehen, wie er sich mit Blut auf den Lippen in die Hose gepisst hat. Aber was soll’s, lasst uns weiter darüber diskutieren, warum ich auf der Terrasse des Soho House mal von einer hübschen
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