Straight White Male: Roman (German Edition)
kaum ertragen.
»Hast du dir ein bisschen Arbeit mit nach Hause genommen?«, fragte Millie mit breitem Grinsen.
»Was soll ich sagen?«, erwiderte Kennedy. »Frauen wollen ihn, Männer wollen sein wie er.«
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass du das wirklich tust.«
»Von allen Fachbereichen für Englische Literatur ausgerechnet …«
»Nein. Dass gerade du dich mit Studenten rumschlagen willst.«
»He, die Miete zahlt sich nicht von allein.«
»Scheiße, Mum. Komm und sieh dir an, wie riesig das ist!«, schallte es vom Ende des Flurs.
»Robin! Hör auf zu fluchen!« Sie konnten hören, wie ihre Tochter auf dem Klavier im Wohnzimmer ein paar Akkorde klimperte. Die Melodie klang wie das Intro von Radioheads »Talk Show Host«. Millie folgte den Klängen den Flur hinunter. Kennedy verharrte noch einen Moment auf der Türschwelle des Arbeitszimmers und schlenderte dann zu den Türmen hinüber. Die oberste Arbeitsprobe auf dem vorderen, dem Südturm, trug den Titel »Serenade« und stammte aus der Feder eines Carl Millar. Er schlug die Titelseite zurück, las den ersten Satz – und ließ das Blatt sofort wieder los, als hätte er sich verbrannt. Gütiger Himmel! Würde er das wirklich durchstehen können? Ehrlich, Carl. Du beginnst den Text allen Ernstes mit »Der Wecker klingelte mit dringlichem Summen …«? Nur zu, Carl. Wirklich ein super Ansatz, um deine Geschichte aus einer möglichst ungewöhnlichen und überraschenden Perspektive zu beginnen. Und »ein dringliches Summen«? Was zur Hölle sollte das sein? Und was wäre dann das Gegenteil davon? Ein entspanntes Schrillen? Fuck, war ihm dieses Grauen wirklich eine halbe Million wert?
Kennedy wich von den Türmen zurück – beinahe hätte er dabei die Handflächen zur Abwehr erhoben, als wären diese Papierstapel bewaffnete Eindringlinge oder tickende Zeitbomben – und eilte Richtung Wohnzimmer.
Was er beim Eintreten sah, ließ ihn auf der Stelle innehalten und brachte ihm seinen rasenden Puls ins Bewusstsein. Am anderen Ende des Raums saß Robin am Klavier und spielte so konzentriert, dass sie sich dabei auf die Unterlippe biss, während Millie hinter ihr stand und die Noten umblätterte. Es war irgendetwas Klassisches, etwas, das Kennedy – der sich mit Klassik zwar gern besser ausgekannt hätte, aber zu seinem Bedauern schnell hatte feststellen müssen, dass die Beschäftigung damit dem Erlernen einer zweiten Fremdsprache gleichkam – nicht erkannte. Das hinter ihnen durch die Panoramafenster einfallende pfirsichfarbene Sonnenlicht schuf eine fast unwirkliche Aura um Mutter und Tochter. An einem Samstagmorgen ins Zimmer zu treten, während einem der Kopf ganz woanders stand, und die beiden dann plötzlich so zu sehen, das war irgendwie …
Mit einem Mal hatte er diese ungebetene Fantasie: Er stellte sich vor, sie wären alle eben erst aufgestanden. Dass sie am Abend zuvor bis in die Puppen wach geblieben wären und sich einen Film angesehen hätten. Nur sie drei. Er und Millie hätten auf einem der Sofas gekuschelt, Robin zu ihren Füßen in einem Sitzsack gelegen. Millie hätte – was selten genug vorkam – an einer Tafel Schokolade genascht. Kennedy wäre nüchtern gewesen, hätte vielleicht eine bequeme Strickjacke getragen. Jetzt gleich würden sie ein spätes gemeinsames Frühstück einnehmen und dann zu Hause abhängen, möglicherweise einkaufen gehen oder einen Spaziergang machen – hier strapazierte Kennedy seine eigene Gutgläubigkeit –, bevor sie in dieses große, wunderschöne Landhaus zurückkehren würden, voller Vorfreude auf den Eintopf, den Millie nach dem Aufstehen in den Ofen geschoben hatte und dessen Duft nach Knoblauch, Thymian und süßem Wurzelgemüse bereits das ganze Haus erfüllen würde. Ihr Heim. Der Anblick seiner Exfrau und seiner Tochter am Klavier versetzte Kennedy Marr für den Bruchteil einer Sekunde in jenes Leben, das er niemals gelebt hatte. Das Leben, auf das er verzichtet hatte. O ja, diese Gedanken gehen niemals weg. Sie bleiben immer bei dir. Man kann nur hoffen, irgendwie damit leben zu können.
Die Musik verklang, und er merkte, dass sie ihn beide ansahen. »Dad?«, fragte Robin.
»Ja«, sagte er, und seine Stimme klang belegter, als er erwartet hätte. Er räusperte sich, riss sich zusammen. »Lust, ins Pub zu gehen? Na los, lasst uns was essen. Wo kriegt man in diesem gottverlassenen Land denn was Vernünftiges zu trinken?«
»Müsstest du nicht eigentlich ein paar Hundert Kurzgeschichten
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