Straight White Male: Roman (German Edition)
noch einmal und rief dann » TSCHÜSS, MUM! « in Richtung Wohnzimmer, woraufhin eine gedämpfte Antwort von Millie zurückkam.
»In Ordnung«, sagte Kennedy. »Also nächstes Wochenende. Sonntag. Wie wäre es, wenn wir zusammen zum Lunch gehen?«
»Ist gut, machen wir.« Robin hauchte ihm einen weiteren Kuss auf die Wange und verschwand durch die Tür in die Nacht.
Er sah zu, wie sie die Einfahrt hinunter zu einem blauen Polo ging. Musik ertönte, als die Beifahrertür geöffnet wurde und den Blick auf den fröhlich grinsenden Kinderschänder hinter dem Lenkrad freigab. (»Wenn du einen Sohn hast, musst du dich nur um einen Schwanz sorgen.«) Der Junge, dieser verfluchte Ollie, winkte ihm zu. Kennedy stand bloß da, die Hände in den Hosentaschen, und starrte ihn an. Eine Sekunde lang spielte er mit dem Gedanken, seiner Tochter hinterherzustürmen, sie in bester Rugby-Manier auf den Schotter zu drücken und zurück ins Haus zu schleifen.
Gegen seinen Willen wurde Kennedy plötzlich an etwas erinnert, das über zehn Jahre zurückliegen musste. Ja, noch vor Los Angeles, vor der Trennung. Robin dürfte damals ungefähr fünf gewesen sein. Er war bei ihnen zu Besuch gewesen. Beim Abschied hatte sie sich um sein Bein geschlungen. »Bleib hier, Daddy, bitte bleib hier!« Er hatte ein Spiel daraus gemacht, sich aus ihrer Umklammerung befreit und so getan, als wollte er abhauen, während sie kichernd hinter ihm her gelaufen war und sich immer wieder um sein Bein geschlungen hatte. Aber irgendwann war es dann wirklich an der Zeit gewesen, Abschied zu nehmen, und sie begriff, dass es kein Spiel mehr war. Er würde gehen. »Wann kommst du wieder?«, hatte Robin ihn mit bebenden Lippen gefragt. »Am Tag nach heute?« »Am Tag nach heute« war Robins kindlicher Ausdruck für »morgen«. »Nein, Robs.« Am Wagen hatte er sich noch einmal umgedreht. Sie hatte ihr Gesicht und die winzigen Händchen flach gegen die Scheibe gedrückt. Tränen liefen über ihre Wangen, während Millie sie hielt, um sie zu trösten. Ich habe ihre Liebe verraten, hatte Kennedy ein paar Minuten später gedacht. Er war auf einen Parkplatz gefahren, um den eigenen Tränen freien Lauf zu lassen.
Wohin mit solchen Gedanken? Wie steckte man sie weg? Ihre Halbwertszeit war unfassbar: Auch zehn Jahre danach besaß die Erinnerung an diese Händchen, diese winzigen weißen Seesterne, noch immer die Macht, ihn seinen Dealer anrufen zu lassen. Ihn um Punkt sechs zur Whiskyflasche greifen zu lassen.
Literatur half. Auf den Seiten der Bücher war alles niedergeschrieben – das Werk von Männern, die die Liebe verraten hatten. Die Dead White Males hatten es auf den Punkt gebracht: Nabokovs Pnin, der am Küchentisch »Ich chab nix mehr, naffing, naffing!« schluchzt. Bellows Herzog, der in Zug, Flugzeug und Taxi wie wild seine Einsamkeit zu Papier bringt, als wollte er seine Wunden im wahrsten Sinne des Wortes »zutexten«. Updikes Harry Angstrom, der traurig zusieht, wie der Wind den Müll über die Hauptstraße von Brewer bläst, ihn davonträgt wie seine Jugend und seine Liebe.
Seufzend ging Kennedy ins Wohnzimmer hinüber. Millie saß zusammengekuschelt in einem Lehnstuhl, neben sich ein Glas Wein, auf ihrem Schoß ein dickes Manuskript, in dem sie stirnrunzelnd las. Sie wirkte unglaublich erwachsen. Wie machten die das bloß, diese Erwachsenen? Der Tropfen Pinot, an dem sie eine halbe Stunde lang nippten, das gute Buch, früh zu Bett gehen. Noch ein wenig Radio 4 hören. Wo hatten sie das gelernt? Kennedy war immer der Überzeugung gewesen, erwachsen zu werden sei etwas, das mehr oder weniger von allein geschah. Dass es einfach passierte, während man älter wurde – quasi durch Osmose. Aber hier war er nun, am Ende des zweiten Akts, und kratzte sich im Geiste auf der wackeligen Planke mit der Whiskyflasche am Hals den benebelten Kopf.
»Was soll dieser ›Dad, es ist Freitagabend‹-Mist?«, fragte er. »Seit wann hat sie solche Hummeln im Hintern? Von diesem Ollie ganz zu schweigen. Wer ist dieser Lustmolch? Ich meine, was wissen wir über ihn?«
Millie blätterte die Seite um, ohne aufzublicken. »Was soll ich dir sagen, Kennedy? Sie ist fast siebzehn. Du hast es verpasst. Du hast alles verpasst.«
Tja, nun. Vielleicht hatte er andere Prioritäten gesetzt.
Er hatte es zum Beispiel vorgezogen, mit einem starken Drink in der Hand und dem Kopf voll wichtiger Gedanken im Dachgeschoss vor dem flimmernden Laptop zu sitzen, statt zwei Stockwerke tiefer
Weitere Kostenlose Bücher