Strange Angels: Verraten: Roman (PAN) (German Edition)
Dru!« Am Ende der Regalreihe bog Dylan scharf nach rechts und lief weiter, bis wir vor einer schweren Holztür in einer Steinmauer ankamen. »Ich hatte eigentlich vor, die Mitschrift Christophe zu geben, aber du siehst ihn wahrscheinlich vor mir. Falls er noch am Leben ist.« Er schaute mich merkwürdig finster an.
In mir kämpfte der Drang, ihm zu erzählen, ich hätte Christophe schon gesehen, mit der warnenden Stimme, die mir befahl, den Mund zu halten. Alle logen, verdammt! Als Nächstes würde ich sicher herausfinden, dass sogar Graves mich verarschte.
Nein. Er nicht! Das weißt du. Auch wenn Graves gern mit seinen Wolfskumpeln herumhing. Die mir allerdings auch nicht allzu übel vorkamen, bloß dumm und aggressiv. Und? Waren das nicht alle Jungen?
Aber wenn niemand wissen durfte, dass ich hier war, was war mit ihnen?
Dylan schloss die Tür mit einem dicken Eisenschlüssel auf. »Wir haben ungefähr zwei Stunden, bis Kruger mit seiner Wache dran ist. Vorher möchte ich dich wieder in dein Zimmer bringen.«
»Klingt nach einem Plan.« Das merkwürdige Wirbeln in meiner Brust setzte wieder ein. Gott, ich wünschte, Dad wäre hier! Oder August. Oder sogar Christophe. Irgendjemand anders, der sich um alles kümmert.
Zum x-ten Mal verdrängte ich diesen Gedanken und folgte Dylan durch die Tür.
Ich beobachtete, wie der Sonnenuntergang orange und golden durch mein Fenster schien. Die Waffe lag auf meinem Nachtschrank, auf die Ecke hinter der Tür gerichtet. Eine Kopie der Mitschrift – dreieinhalb Seiten, einzeilig beschrieben – lag neben meinen nackten Füßen.
Sprecher, Datum und Uhrzeit waren in derselben Form notiert wie beim Militär, was ich auf den ersten Blick bemerkte. Oben und unten auf jeder Seite liefen Zahlenreihen, und der Text in der Mitte war noch enger gedruckt, ganz gleichmäßig, wie kleine schwarze Ameisen, die über weißes Papier marschierten.
SFR 1: Die Information wird gut geschützt.
SFR 2: Das muss nicht deine Sorge sein. Wo ist sie? Wir sind bereit, für die Information zu zahlen.
SFR 1: Behalte dein Geld. Ich will nur, dass die Schlampe stirbt.
SFR 2: Das kann ich arrangieren.
Es war meine Mutter, über die sie gesprochen hatten. Vollkommen ruhig redeten sie über ihre Ermordung, als wäre ihr Tod ein Punkt auf einem Einkaufszettel. Auch Dad wurde erwähnt – »der Ehemann«. Kein Wort über mich.
Dem Datum nach war ich ungefähr fünf Jahre alt gewesen. Hatte meine Mutter mich geheim gehalten?
Ich kniff die Augen so fest zu, dass ein gelbes Phantomfeuerwerk hinter meinen Lidern losfeuerte. Es war die schmerzlichste Erinnerung von allen, sogar noch schlimmer als die an Dads Augen, in denen das Weiße verrottete und die blaue Iris umwölkt war, während sein toter Leib schmatzend auf mich zutorkelte.
Diese Erinnerung lag ganz unten am Boden eines tiefen Brunnens in meinem Kopf, und sie heraufzubeschwören löste ein kurzes Zittern in mir aus.
»Dru«, sagt sie leise, aber eindringlich, »steh auf!«
Ich reibe mir gähnend die Augen. »Mommy?« Meine Stimme ist gedämpft. Manchmal ist es die einer Zweijährigen, manchmal hört sie sich älter an. Aber immer klingt sie verwundert und schläfrig-ruhig.
»Komm, Dru!« Sie streckt ihre Hände aus und hebt mich mit einem leisen Uff! hoch, als wollte sie nicht glauben, wie sehr ich gewachsen bin. Ich bin jetzt ein großes Mädchen und muss nicht mehr von ihr getragen werden. Aber ich bin auch so müde, dass ich mich nicht sträube. Vielmehr kuschle ich mich in ihre Wärme und spüre das Kolibriflattern ihres Herzschlags. »Ich liebe dich, meine Süße«, flüstert sie in mein Haar. Sie duftet nach frischen Keksen und warmem Parfum. Und hier fängt der Traum an, dramatisch zu werden, denn ich höre etwas wie Schritte oder einen Puls. Zuerst ist es ganz still, doch es wird mit jedem Pochen lauter. »Ich liebe dich so sehr.«
»Mommy …« Ich lege meinen Kopf an ihre Schulter. Ich weiß, dass ich schwer bin, aber sie trägt mich, und als sie mich absetzt, um eine Tür aufzumachen, murre ich bloß ein bisschen.
Es ist die Wandschranktür unten. Woher ich weiß, dass sie unten ist, kann ich nicht genau sagen. Da ist etwas im Boden, das sie nach oben zieht. Ein paar von meinen Stofftieren liegen in dem viereckigen Loch sowie Decken und ein Kissen von Moms und Dads Bett. Sie hebt mich wieder hoch und in das Loch hinein. Ich bekomme ein bisschen Angst. »Mommy?«
»Wir spielen ein Spiel, Dru. Du versteckst dich hier und
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