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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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warum es verboten sein soll, sie auszunehmen, und er dampfte ab unter großem Gelächter.
    Tatsächlich fiel es einem schwer, ihm zu widersprechen: Man hatte manchmal den Eindruck, dass Gott selbst es war (Er möge mir vergeben), der diese Geschöpfe in unsere Gassen schickte, damit sie, ahnungslos, wie sie waren, in die Luft starrten, während Mounir in aller Ruhe mit seiner Hand in ihren Rucksack griff.
    Manna also. Die Ärmsten der Armen überlebten dank des Tourismus, die Stadt überlebte dank des Tourismus, sie wollte immer mehr Touristen, zog immer mehr an, erhöhte die Zahl der Hotels, der Pensionen, der Flugzeuge, um diese Schafe herzubringen, damit sie geschoren würden, alles das erinnerte mich an Marokko, gab es damals doch in der U-Bahn von Barcelona eine Werbekampagne für Reisen nach Marrakesch, Fotos mit beliebten orientalischen Motiven, versehen mit einem hübschen Slogan von der Art »Marrakesch, die Stadt, die dich auf deiner Reise mitnimmt« oder »Wohin dein Herz dich trägt«, und ich dachte dabei, dass der Tourismus ein Fluch sei wie das Öl, ein Köder, der falschen Reichtum, Korruption und Gewalt bringt; in der U-Bahn von Barcelona fiel mir wieder der Sprengstoffanschlag in Marrakesch ein, Cheikh Nouredine, der sich irgendwo in Arabien aufhielt, und Bassam, irgendwo im Land der Finsternis, und das Attentat von Tanger, bei dem dieser Student durch einen Säbel zu Tode gekommen war – natürlich war Barcelona anders, hier gab es die Demokratie, aber man spürte, dass all das auf der Kippe stand, dass es nicht viel brauchte, damit sich auch hier im ganzen Land Gewalt und Hass ausbreiteten, dass Frankreich folgen würde und dann Deutschland, dass ganz Europa brennen würde wie die arabische Welt, und die Obszönität dieses Plakats in der Metro war der Beweis dafür, Marrakesch brauchte nichts anderes mehr zu tun, als Geld in Werbekampagnen zu stecken, damit das verlorene Manna zurückkehrte, auch wenn man ganz genau wusste, dass dieses Geld aus dem Tourismus Unterentwicklung, Korruption und Neokolonialismus erzeugte, wie man in Barcelona spürte, dass die Vorbehalte gegen das Geld aus dem Ausland oder dem Inland allmählich größer wurden; das Geld brachte die Armen gegeneinander auf, die Demütigung schlug langsam um in Hass; alles hassten die Chinesen, die mit dem Geld ganzer Familien aus Gegenden, deren Armut man sich nicht einmal vorstellen kann, eine Bar nach der anderen, ein Restaurant nach dem anderen, einen Basar nach dem anderen aufkauften; alle verachteten die britischen Proleten, die herkamen, um billiges Bier zu trinken, in den Türwinkeln zu vögeln, und die, noch immer betrunken, wieder in ein Flugzeug stiegen, das sie so viel kostete wie ein Pint Starkbier in ihrer düsteren Vorstadt; alle sehnten sich insgeheim nach den sehr jungen, kreideweißen Nordeuropäern, die der Temperaturunterschied dazu verlockte, im Februar in ihre Minikleider und ihre Tongs zu schlüpfen – jeder vierte Katalane war arbeitslos, die Zeitungen quollen über von entsetzlichen Geschichten aus der Krise, von Familien, die aus ihren Wohnungen geworfen wurden, weil sie die Miete nicht mehr zahlen konnten, und von Banken, die ihre Wohnungen verschleuderten, aber weiter auf Begleichung der Schulden bestanden; Selbstmorde, Opfer, Mutlosigkeit: Man spürte, wie der Druck anstieg, wie die Gewaltbereitschaft anstieg, sogar in der Straße der Diebe bei den Ärmsten der Armen, sogar im Gràcia unter den Bürgersöhnen, man spürte, dass die Stadt bereit zu allem war, zur Resignation wie zum Aufstand.
    Mounir erzählte mir von Sidi Bouzid, von der Verzweiflungstat, die die Revolution ausgelöst hatte: Jemand musste Hand an sich legen, damit die Massen reagierten, als ob am Ende nur dieses allerletzte Aufbäumen die Dinge ins Rollen bringen könnte – es musste sich jemand selbst verbrennen, damit man den Mut fand zu handeln; es musste den unumkehrbaren Tod eines Mitmenschen geben, damit man begriff, dass man selbst nichts zu verlieren hatte. Diese Frage quälte mich: Sie brachte mir Marokko in die Erinnerung zurück, meinen nächtlichen Ausflug mit Bassam und Cheikh Nouredine, meine Feigheit, die genau das Gegenteil gewesen war von Sidi Bouzids Aufbäumen, als ob auf der einen Seite der Selbstmord und auf der anderen Seite die Diktatur der Knüppel stünde, als ob die ganze Welt kurz davor wäre, in Richtung Diktatur der Knüppel zu kippen, und alles, was einem noch bliebe, die Aussicht wäre, sich im Feuer zu

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