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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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besaß ein bisher florierendes kleines Bauunternehmen, das jetzt aber am Rand des Konkurses stand, und ihrer Mutter, die an der Universität unterrichtete, war im Jahr zuvor zweimal das Gehalt gekürzt worden. Aber ich glaube nicht, dass es eine Frage des Geldes ist, sagte Elena; es ist etwas anderes – es interessiert sie nichts mehr. Nicht einmal mehr Arabisch, sie lernt es zwar weiter, wie du weißt, aber ohne Leidenschaft. Sie schaut sich nicht mehr nach Masterstudiengängen und Übersetzerinstituten für das kommende Jahr um. Sie geht fast gar nicht mehr aus, außer ab und zu mit dir. Letztes Jahr noch besuchten wir zusammen Clubs, Konzerte, jetzt läuft nichts mehr. Sie hat sich in der Occupy-Bewegung engagiert, an den Versammlungen der Indignados beteiligt, kurz, sie ist vielerlei Aktivitäten nachgegangen, und heute macht sie fast nichts mehr. Die Seminare besucht sie noch, aber das ist alles. Ich habe den Eindruck, dass sie sich die meiste Zeit in ihr Zimmer einschließt, sie dreht eine Runde im Viertel, um Luft zu schnappen, mehr nicht. Elena schien traurig und sorgte sich um ihre Freundin, zumal sie nicht erkennen konnte, was diesen Wandel hervorgerufen hatte. Bei ihrer Rückkehr aus Tunis, sagte sie, redete sie nur von dir, von euch, von Marokko, von den riesigen Fortschritten, die sie in Arabisch gemacht hat, und so weiter – und im Herbst fing es an, ihr nicht mehr so gut zu gehen; sie machte sich Sorgen, weil du ihr so wenig geschrieben hast, auch wenn sie natürlich wusste, dass du die meiste Zeit auf deinem Schiff und ohne Internetverbindung warst; nach und nach wurde sie der Indignados überdrüssig, sie fand die Bewegung etwas leer; der Festcharakter, den die Occupy-Bewegung manchmal hatte, nervte sie auch, sie mischte sich immer seltener unter die Besetzer der Plaça del Sol. Kurz, mit der Zeit unternahm sie immer weniger, versank in Trübsinn.
    Als Beschreibung erschien mir das reichlich übertrieben, es würde sicher vorübergehen.
    Was mich betraf, so war meine Lage nicht gerade einfach, auch wenn ich froh darüber war, dass ich in Barcelona Fuß gefasst hatte, auch wenn ich meine Lesezeit auf dem Balkon, das Leben im Viertel und die Arabischstunden genoss wie alles, was ich vom europäischen Leben entdeckte, die Sprachen, die Zeitungen, die Bücher. Wahrscheinlich wurde ich wegen der Sache mit Cruz gesucht, ich konnte vernünftigerweise nicht zur Polizei gehen, um sie nach dem Stand ihrer Ermittlungen zu fragen oder ihnen zu erklären, dass ich den guten Mann, anders als sie offenbar vermuteten, nicht umgebracht hatte: Das bedeutete auch, dass ich in Barcelona festsaß, einmal mehr gefangen war, aber dieses Mal war das Gelände größer. Nur die fehlenden Zukunftsaussichten waren ein wenig bedrückend: Ich hätte mich gerne an der Universität eingeschrieben, doch ohne Aufenthaltsgenehmigung war das sicher unmöglich; ebenso wenig konnte ich legal arbeiten. Ich musste mich gedulden – ich hatte eine lange Wartezeit von mehreren Jahren vor mir, bis die Polizei mich vergessen und die Wirtschaftslage in Europa sich verbessern würde, was aber unabsehbar zu sein schien. Wie jemand, der an einer langsam voranschreitenden Krankheit leidet, die ihm anfangs fast keine Schmerzen bereitet und die er im Alltag leicht vergisst, quälten mich diese Fragen nicht, zumindest nicht oft. Cruz hatte sich in meine Albträume eingenistet, er hatte sich zu meinen Toten gesellt. Ich rauchte ab und zu ein paar Joints mitten in der Nacht, wenn der Traum so schrecklich gewesen war, dass ich nicht wieder einschlafen konnte: Es waren noch immer dieselben Themen, Blut, Ertrinken und Tod.
    Bassams Lächeln, wenn wir die Meerenge betrachteten, sein gutmütiger, vergnügter Proletenholzkopf, das fehlte mir.
    Da ich nicht an die Uni konnte, versuchte ich, um keine Zeit zu verlieren, etwas für meine Bildung zu tun. Mir war bewusst, dass ich das Beste, was ich bisher erlebt hatte, Büchern verdankte, ob es bei der »Gruppe zur Verbreitung des koranischen Gedankenguts« oder bei Monsieur Bourrelier war; ich spürte vage, dass sie mir eine schmerzhafte Überlegenheit über meine Gefährten im Unglück, Illegale wie ich, verschafften – ganz davon abgesehen, dass Lesen eine nahezu kostenlose Freizeitbeschäftigung war. Fußball und Fernsehen waren nicht viel teurer, klar, aber es fiel mir schwer, mich für die Legende von Barça zu begeistern, die, wer weiß warum, zur Mannschaft der Gerechten und Unterdrückten gegenüber

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