Strasse der Sterne
zwischen ihnen offen waren.
»Gib mir deine Hand, Pilar.«
Der Kontakt mit seiner warmen Haut war aufregend, aber sie verbot sich, es zu genießen. Pilar lehnte sich an die Holzwand, zu der er sie geführt hatte, um sie vor dem Wind zu schützen. Mit einem Mal spürte sie, wie müde sie war.
»Sieht man schon die Berge?«, fragte sie.
»Heide und Kiefernwälder liegen hinter uns«, erwiderte er. »Jetzt beginnen die Hügel. Und die Luft hat sich verändert. Riechst du es?«
»Und die Sterne?«, fragte sie weiter.
»Der Himmel ist wolkig. Aber die Mondsichel blitzt ab und zu dazwischen hervor. Außerdem sind die Sterne immer da, auch wenn wir sie nicht sehen. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, sie würden uns auf diesem langen Weg zu Jakobus auf besondere Weise beschützen.«
»Mir sind sie immer fern vorgekommen ... als ich sie noch sehen konnte.«
»Muss man nicht nach dem Höchsten streben, um irgendwann zu erreichen, wovon man stets geträumt hat?«
»Aber wenn man dabei scheitert? Wenn das Ziel zu hoch gesetzt ist - und damit unerreichbar?«
Camino räusperte sich. »Ist es das, was du mich fragen wolltest?«
»Du hast Renas Brief genommen. Weshalb?«
Pilar hörte ein Rascheln, dann spürte sie das schon leicht mürbe Papier in ihrer Hand.
»Verzeih!«, sagte er. »Ich hätte dich fragen müssen. Aber
ich war so begierig zu erfahren ...« Er brach ab. »Es tut weh, dass sie mir so fremd geworden ist«, fuhr er fort. »Nicht einmal in diesen Zeilen finde ich Blanca wieder - die Frau, für die ich einst mein Leben gegeben hätte.«
»Wieso nennst du sie immer Blanca? Papa und ich haben sie nur als Rena gekannt.«
»Das Mädchen, das ich liebte, hieß Blanca Alvar.«
»Aber diese Blanca ist meine Mutter. Das glaubst du doch, oder?«
»Inzwischen zweifle ich nicht mehr daran. Vielleicht hat sie gute Gründe gehabt, sich Rena zu nennen.«
»Ist sie mir eigentlich ähnlich?«, fragte Pilar vorsichtig.
»Blanca? Nein. Ich habe sie anders in Erinnerung. Und doch: In manchem gleicht ihr euch verblüffend. Beide seid ihr stolz und ungeduldig. Und mögt es nicht, wenn andere über euch bestimmen wollen.«
»Mein Bild von ihr wird immer blasser - die Augen, ihr Gesicht, die Stimme. Am besten erinnere ich mich noch an ihr Haar. Es war wie ein kostbarer Pelz, in den ich mich am liebsten für immer geschmiegt hätte. Aber dazu war selten Gelegenheit. Meine Mutter hatte sehr eigene Vorstellungen von Nähe.«
»Als ich sie traf, damals in León, war es dunkel wie deines. Sie war so schön, so strahlend, eine Königin, die jeden Raum, den sie betrat, zum Leuchten brachte. Und dennoch hab ich immer gespürt, dass sie etwas vor mir verbarg, von Anfang an. Als Blanca mir schließlich gestand, dass sie den Reinen angehörte, hoffte ich nach dem ersten Erschrecken, die Geheimnisse hätten damit ein Ende. Aber ich hatte mich getäuscht. Das wichtigste Geheimnis hat sie für sich behalten.«
»Du meinst das Kind?«, sagte Pilar.
»Ja«, sagte er. »Ein Mädchen. Ich habe zu spät davon erfahren. Als alles auf dem Spiel stand, hatte Blanca sich bereits gegen mich entschieden.«
»Du hast deine Tochter niemals gesehen?«
»Niemals. Das Kind sei in guten Händen, hat sie mir unter Tränen versichert. Ich war so aufgewühlt, so verletzt, so voller Trauer - und Blanca nicht minder. Ihr Haar war schneeweiß geworden. Sie muss Schreckliches durchgemacht haben, auch wenn sie mir gegenüber niemals ein Wort darüber verloren hat. Aber die deutlichste Sprache sprach der Ring an ihrer Hand: Anstelle des Smaragds war ein anderer Stein eingesetzt. Jener, den du jetzt am Finger trägst.«
Pilar berührte ihn. Der Labradorit fühlte sich an wie immer, kühl und makellos. Kein Sprung. Sie vergewisserte sich beinahe täglich, dass er unversehrt war.
»Papa hat ihn niemals abgelegt«, sagte sie. »Wie durch ein Wunder hat er sogar das Feuer überstanden.«
»Für mich war Heinrich Weltenpurger nichts anderes als ein Kaufmann, in Geschäften unterwegs. Ich wusste lange nicht einmal, dass sie sich kannten. Wie sollte ich ahnen, dass er Blanca in seine Heimat mitnehmen würde? Aber eines weiß ich: Mich hat sie verstoßen. Uns waren nur ein paar Monate heimlichen Glücks vergönnt. Mit Heinrich jedoch hat sie gelebt. Jahrelang. Und in seinem Haus ein Kind zur Welt gebracht - dich.«
»Was ist in jener letzten Nacht geschehen, Camino?« Pilars Stimme klang gepresst. Bis vor wenigen Augenblicken war sie sich nicht sicher
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