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Straub, Peter

Straub, Peter

Titel: Straub, Peter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fremde Frau
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aber ich konnte es nicht verdrängen .
    Ihr zweiter Brief war bei weitem der längste, den sie mir schrieb, und ich möchte ihn nicht ganz zitieren. Der Brief b e stand aus zehn engbeschriebenen Seiten ihres schönen Brie f papiers. Von dem Augenblick an, als ich ihn das erste Mal las , erschien er mir unverständlich. Sie begann einen Abschnit t m it einem Thema, und dann schweifte sie zügellos davon ab und verlor sich in aufwallenden Erinnerungen. »Wir kennen eina n der jetzt «, schrieb sie, und wenn es eine Einheit in diesem Brief gab, dann war es dieser Satz. Wir kannten einander in einer unterirdischen, hintergründigen Weise; um unsere intu i tive, impulsive Beziehung zu vervollkommnen, mussten wir Ereignisse und Vorkommnisse aus unserer jeweiligen Verga n genheit austauschen. (Das schrieb sie nicht, aber für mich war es die implizite Botschaft des Briefes.)
    Er kreiste, wie eine Geschichte, die in einem Traum erzählt wird, immer wieder um das Leben mit ihrer Mutter. Diese A b schnitte las ich mit einer angestrengten, erstaunten Empfän g lichkeit . Ich hatte noch nie von einer solchen Kindheit gehört . Sie hörte sich an wie aus einem Roman von Dickens, an den ich mich dunkel aus meiner Schulzeit erinnerte. Aus den im Brief erwähnten Einzelheiten schloss ich, dass ihre Mutter eine selbstzerstörerische, willige Alkoholikerin gewesen war – das heißt, eine amerikanische Alkoholikerin. Sie missbrauchte ihre Tochter tagtäglich (ihr Sohn, der jüngere Bruder, entfloh schon früh und suchte Zuflucht im Haus einer Tante, und er weigerte sich, von dort zurückzukehren – wieder ein Bezug zu Dickens!), und dennoch bestand ein Band inniger Gefühle zwischen ihnen. Genauer, es bestand eine Verwandtschaft zwischen ihnen. Die Frau hat mir einmal gesagt, dass sie wä h rend ihrer gesamten Jugend schreckliche Angst hatte, erwac h sen und wie die Frau zu werden, mit der sie unter einem Dach lebte. Das jedenfalls ist meine Interpretation. Die Einzelheiten sind unwichtig.
    Aber einen Abschnitt von der letzten Seite möchte ich noch anführen. Er handelt davon, wie sie während des Zweiten Weltkriegs aufwuchs, und während ich ihn las, dachte ich, er würde mir helfen, die Frau zu verstehen; später, nach unserer trennenden Schlussfolgerung , half er mir erneut zu klären, was geschehen war.
    »Kein Amerikaner, den ich je kennen gelernt habe, kann verstehen, wie unser Leben damals war.
    Das Wichtigste an jenen Jahren war die Tatsache, dass das Leben unerfindlich und vollkommen normal zugleich war. In der Schule lebten wir in einer Welt, die geordnet, regelmäßig, geplant, sogar langweilig war. Wir lernten Mathematik, lasen Gedichte, bekamen Hausaufgaben auf. Dabei waren wir die ganze Zeit von allen Anzeichen internationalen Mordens u m geben. Ich erinnere mich noch sehr deutlich, wie ich eines Nachmittags in den Garten ging und Zeugin eines Luftkampfs am Himmel über unserem Haus wurde. Unser Flugzeug u m kreiste ihres, es schlingerte und wippte, als litte es Schmerzen. Schließlich explodierte ein Flugzeug und ging als Regen von Wrackteilen hernieder. Ich erinnere mich nicht daran, welches. Ich erinnere mich nur daran, dass ich glücklich war, weil ich nun viele Sachen finden würde, mit denen ich spielen und die ich mit meinen Freundinnen in der Schule tauschen konnte.
    Ringsum wurden Häuser durch die Explosion in Mitleide n schaft gezogen, aber unseres blieb unversehrt. Ich kann mich nicht dran erinnern, jemals wirklich Angst gehabt zu haben, dass uns etwas passieren würde. Ich hatte Freundinnen, die fast in den Schutzbunkern zu leben schienen, aber sie schienen unverändert. Wenn man amerikanisches Kaugummi oder ein amerikanisches Mars hatte, dann wagte man nicht, das zu e s sen, weil es den eigenen Status so sehr erhöhte. Die Amerik a ner, denen ich seither begegnet bin, überfluten mich alle mit ihrem Mitgefühl, wenn sie die Umstände meiner Kindheit e r fahren. › Nein, es war gar nicht so ‹ , sage ich zu ihnen. › Es war alles normal, vollkommen normal. Mein Leben zu Hause war der wirkliche Krieg. ‹«

FÜNF
     

1
     
    Ich fuhr mit dem Auto, das Morgans Vater ihr vor einer W o che als Geschenk überreicht hatte, vor ihrem Haus an den Straßenrand und parkte hinter einem Lastwagen. Männer in Jeans und grauen T-Shirts gingen um das Haus herum, als ich zur Tür ging. Sie wischten sich mit den Handrücken über die Stirn und hinterließen dabei Schmutzspuren. Ich lächelte ihnen zu, als ich mich

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