Streiflichter aus Amerika
Aber das hier war ja ein Kaffeestand der neunziger Jahre. Er bot eine Palette von zwanzig Sorten – Espresso, Milchkaffee, Karamellmilchkaffee, kleinen Braunen, Macchiato, Mokka, Expressomokka, Schwarzwaldmokka, Americano und weiß der Himmel, was noch – und das alles in vier verschiedenen Portionsgrößen. Es gab auch jede Menge Muffins, Croissants, Bagels und sonstiges Gebäck. Alles in zahllosen Varianten, so daß die Bestellungen etwa folgendermaßen verliefen:
»Ich möchte einen Karamellmilchkaffee mit entkoffeiniertem Mokka und einer kleinen Zimtstange und dazu ein Magerfrischkäse-Sauerteigbagel, den Pimiento bitte gerieben und extra. Sind Ihre Mohnkörner in mehrfach ungesättigtem Pflanzenöl geröstet?«
»Nein, wir nehmen Canolaextrakt, doppelt-extra-lite.«
»Ach, das darf ich nicht essen. Dann bitte ein New Yorker DreiKäse-Pumpernickel-Karamell-Croissant. Was für Emulgatoren nehmen Sie?«
Vor meinem inneren Auge sah ich schon, wie ich die in der Schlange Wartenden der Reihe nach bei den Ohren packte, ihnen dreißig- oder vierzigmal den Kopf zurechtrückte und sagte: »Sie wollen vor dem Flug doch nur eine Tasse Kaffee und ein Gebäckstück. Also bestellen Sie was Einfaches und zischen Sie ab!«
Doch die Leute hatten Glück. Bevor ich morgens (und insbesondere zu einer Stunde mit einer einzigen Ziffer) meine erste Tasse Kaf
fee getrunken habe, schaffe ich es nur, aufzustehen, mich (mehr oder weniger) anzuziehen und um eine Tasse Kaffee zu bitten. Alles andere übersteigt mein Vermögen. Ich blieb also stehen und wartete stoisch, während fünfzehn Kunden komplexe, zeitraubende und grotesk individuelle Bestellungen aufgaben.
Als ich endlich dran war, trat ich vor und sagte: »Ich möchte eine große Tasse Kaffee.«
»Was für Kaffee?«
»Heiß und in einer sehr großen Tasse.«
»Yeah, aber welche Sorte – Mokka, Macchiato, oder was?«
»Ich will einfach nur eine normale Tasse Kaffee.«
»Also einen Americano?«
»Wenn das eine normale Tasse Kaffee ist, bitte ja.«
»Na, Kaffee ist es alles.«
»Ich will eine normale Tasse Kaffee wie ihn Millionen Menschen allmorgendlich trinken.«
»Dann wollen Sie einen Americano.«
»Offensichtlich ja.«
»Wollen Sie kalorienarme oder normale Schlagsahne dazu?«
»Ich will überhaupt keine Schlagsahne.«
»Aber er ist mit Schlagsahne.«
»Passen Sie auf«, sagte ich leise, »es ist zehn nach sechs morgens. Ich habe fünfundzwanzig Minuten hinter fünfzehn wild unentschlossenen Menschen Schlange gestanden, und gleich wird mein Flug aufgerufen. Wenn ich jetzt nicht sofort einen Kaffee kriege, ermorde ich jemanden, und ich glaube, ich sollte Ihnen mitteilen, daß Sie ganz oben auf meiner Liste stehen.« (Ich bin, wie Sie mittlerweile gewiß schon erraten haben, kein Morgenmensch.)
»Heißt das, Sie wollen kalorienarme oder normale Schlagsahne?«
Und so ging es weiter.
Diese überbordende Auswahl verlängert nicht nur jede Transaktion um das Zehnfache des Notwendigen, sondern führt auch auf seltsame Weise zu Unzufriedenheit. Je mehr es gibt, desto mehr verlangen die Leute, und je mehr sie verlangen, desto mehr, ja, verlangen sie. In den Vereinigten Staaten hat man das Gefühl, als bewege man sich unter Abermillionen Menschen, die von allem und jedem ständig, unendlich, unerfüllbar mehr und mehr brauchen. Offenbar haben wir hier eine Gesellschaft geschaffen, die in der Hauptsache damit beschäftigt ist, durch Läden zu streifen und Dinge – Substanzen, Formen, Geschmäcker – zu suchen, die sie noch nicht kennen.
Und das gilt für alles. Man kann offenbar nun unter fünfunddreißig verschiedenen Crest-Zahnpasten wählen. Laut Economist »braucht der durchschnittliche amerikanische Supermarkt sechs Meter Regallänge für Medikamente gegen Husten und Erkältungskrankheiten«. Doch von den fünfundzwanzigtausend »neuen« Verbrauchsgütern, die letztes Jahr hier auf den Markt kamen, sind dreiundneunzig Prozent nur modifizierte Versionen schon existierender Produkte.
Als ich das letztemal frühstücken gegangen bin, mußte ich wählen unter neun Arten, wie ich das Ei haben wollte (pochiert, Rührei, Spiegelei, überbackenes Spiegelei und so weiter und so fort), sechzehn Varianten Pfannkuchen, sechs Saftsorten, zweierlei Würstchen, vier Kartoffelsorten und acht Arten Toast oder Muffins. Ich habe Hypotheken aufgenommen, bei denen ich weniger Entscheidungen treffen mußte. Ich dachte, ich wäre fertig, da fragte mich die Kellnerin: »Wollen
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