Streiflichter aus Amerika
aufgibt! Nur noch 162 Meilen!«, und ein Forscher mit ernster Miene und Sprechblase am Mund vertraute dem vorbeifahrenden Autofahrer an: »Ein wahres Wunder der Natur!« oder »Selbst ich bin baff!«
Als nächstes konnte man dann lesen: »Erleben Sie das Kraftfeld des Atomfelsens... Wenn Sie es wagen! Nur noch 147 Meilen!« Und man sah, wie ein Mann, der interessanterweise dem eigenen Vater ähnelte, von einer unbekannten strahlenden Kraft zurückgeschleudert wurde. In schmaleren Lettern erging die Warnung: »Vorsicht: Für Kleinkinder eventuell nicht geeignet.«
Das brachte es dann. Mein großer Bruder und meine große Schwester, die mit mir hinten auf den Rücksitz gequetscht saßen und alle Möglichkeiten erschöpft hatten, mir mit einem Kugelschreiber plastische geometrische Muster auf Gesicht, Arme und Bauch zu zeichnen, schrieen lauthals, daß sie diese weltberühmte Attraktion sehen wollten, und ich stimmte leise mit ein.
Die Leute, die diese Plakatwände aufstellten, waren genial. Sie gehören zu den größten Marketinggenies unseres Zeitalters. Sie wußten genau – auf die Meile genau, nehme ich an –, wie lange ein Haufen Kinder in einem Auto braucht, um den zwangsläufig heftigen Widerstand eines Familienoberhauptes zu brechen, das natürlich nirgendwohin will, das Geld und Zeit kostet. Wir jedenfalls fuhren letztendlich immer dorthin.
Selbstredend glich der weltberühmte Atomfelsen dem angekündigten Wunder der Natur nicht im geringsten. Es war schon fast komisch, um wieviel kleiner er war als auf dem Plakat und daß er keineswegs glühte. Angeblich aus Sicherheitsgründen hatte man ihm mit einem Zaun abgesperrt, der mit Warnungen wie »Achtung! Gefährliches Kraftfeld! Nicht näher treten!« zugeklebt war. Natürlich kroch trotzdem ein Kind darunter hindurch und berührte den Felsen, ja kletterte darauf herum, ohne daß es beiseite geschleudert wurde oder sonstwelche unmittelbaren Schäden erlitt. Meine extravaganten Tätowierungen erregten weit mehr Aufmerksamkeit bei den Schaulustigen.
Seinerseits glühend vor Empörung packte uns mein Vater wieder ins Auto, schwor, sich nie wieder für so dumm verkaufen zu lassen, und wir fuhren weiter, bis wir ein paar Stunden später an einer Plakatwand vorbeikamen, die uns zu einem Besuch der »Weltberühmten singenden Sanddünen! Nur 214 Meilen!« einlud und das Ganze von vorn begann.
In sturzlangweiligen Staaten wie Nebraska und Kansas errichteten die Bewohner Schilder, auf denen so gut wie alles annonciert wurde
– »Schauen Sie die tote Kuh an! Stundenlanger Spaß für die ganze Familie!« oder »Holzplanke! Nur noch 132 Meilen!« Über die Jahre, daran erinnere ich mich gut, besuchten wir einen Dinosaurierfußabdruck, einen versteinerten Frosch, ein Loch im Boden (»den tiefsten Brunnen auf Erden«) und ein komplett aus Bierflaschen gebautes Haus. Aus manchen unserer Ferien sind das sogar meine einzigen Erinnerungen.
Die angepriesenen Sensationen waren fast immer enttäuschend, aber das war nicht schlimm. Dafür bezahlte man die fünfundsiebzig Cents nicht. Man bezahlte sie als eine Art Tribut, als Dank an den erfindungsreichen Menschen, der einem geholfen hatte, zweihundert Kilometer ereignislosen Highway in einem Zustand wahrhafter Erregung hinter sich zu bringen. Mein Vater hat das nie begriffen.
Zu meinem Bedauern muß ich sagen, daß meine Kinder es auch nicht begreifen. Auf unserem Trip durch Pennsylvania, einem Staat, der so absurd groß ist, daß man einen ganzen Tag braucht, um ihn zu durchqueren, kamen wir an einem Schild vorbei, das uns aufforderte: »Besucht das weltberühmte Straßenrandamerika! Nur 79 Meilen!«
Ich hatte keine Ahnung, was Straßenrandamerika war, und es lag auch gar nicht auf unserer Strecke, aber ich bestand darauf, daß wir hinfuhren, weil so etwas Seltenheitswert hat. Heutzutage ist das Sensationellste, auf das man an einem amerikanischen Highway hoffen kann, ein McDonald's Happy Meal. Eine Attraktion wie Straßenrandamerika, was auch immer es ist, muß man in Ehren halten. Die Ironie der Geschichte war natürlich, daß ich der einzige Insasse des Autos war, der sie sehen wollte, und mich gegen ein erhebliches Mehrheitsvotum durchsetzen mußte.
Straßenrandamerika entpuppte sich als große Modelleisenbahn mit kleinen Städten und Tunneln, mit Farmen und Miniaturkühen und schafen und vielen Zügen, die unaufhörlich im Kreis darum herumfuhren. Die Anlage war ein wenig verstaubt und schlecht beleuchtet, aber
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