Strom der Sehnsucht
uns bleiben, meine Tochter. Du bekommst ein Zimmer, wo du dich verbergen kannst, auch vor den Schülerinnen. Es ist still bei uns, woran du kaum gewöhnt bist, aber Körper und Seele werden zur Ruhe kommen, und du hast Zeit, die Vergangenheit zu bereuen und deine Zukunft zu überdenken.«
Claire warf Angeline einen gequälten Blick zu und machte einen Knicks. »Ich danke Euch ergebenst, Mutter Theresa.«
Die Oberin nahm die Kerze und führte die beiden jungen Frauen durch den düsteren Flur zu der Zelle, in der Angelines Kusine wohnen sollte. Dort ließ sie sie allein, damit sie sich verabschieden konnten.
Als sich die Tür hinter der Ordensfrau geschlossen hatte, sah sich
Claire in der nackten Kammer mit den grob verputzten Wänden um, die lediglich ein Kruzifix schmückte. Das roh gezimmerte Bett, der Stuhl und der Tisch waren aus heimischem Holz und von einfachster Ausführung. »Reizend«, bemerkte Claire spitz.
»Es wird ja nicht für lange sein.«
»Hoffentlich nicht. Ich werde sonst verrückt vor heiliger Langeweile. Ich werde nie verstehen, wie du jeden Tag hierherkommen konntest, noch dazu freiwillig.«
Angeline lächelte in sich hinein. »Die Geschmäcker sind verschieden.«
»Allerdings. Man kann es dir wohl kaum zum Vorwurf machen, daß du keine Gelegenheit zur Herausbildung anderer Neigungen hattest. Ich dagegen hatte sie, und das ist mein Fluch.«
Claire ließ ihren Umhang von den Schultern zu Boden gleiten, wie es Leute tun, die gewöhnt sind, daß Diener ihre Kleider aufklauben. Sie trug ein Reisekleid aus changierender, bernsteinfarbener Seide. Das Kerzenlicht fiel auf ihr Haar, und ein grüblerischer Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Sie war selbstsüchtig, herrisch und berechnend; das alles wußte Angeline, und doch ging von ihr viel Teilnahmslosigkeit aus, lag ein Schleier von solcher Verzweiflung über den dunkelgrünen Augen, daß sie unwillkürlich Mitleid mit ihr hatte.
Angeline sah verlegen auf ihre Hände. »Tut mir leid... daß deine Affäre mit Maximilian auf diese Weise zu Ende ging.«
»Mir auch«, antwortete Claire, und ihre Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. »Meine liebe Angeline, soll ich dir einen Rat geben? Es ist kaum anzunehmen, daß du ihn brauchen wirst, und originell ist er auch nicht, aber du solltest ihn trotzdem nicht vergessen: Traue niemals einem Prinzen! «
»Was willst du damit sagen?«
»Hätte Maximilian nicht mein Vertrauen mißbraucht, wäre ich jetzt nicht hier... und er würde vielleicht noch leben. Nun ja. Solltest du nicht besser gehen? Oder willst du die Nacht über hierbleiben?«
Angeline schüttelte den Kopf. »Tante Berthe wird auf mich warten.«
»Ich beneide dich nicht um den Rückweg. Rolf sucht sicher die ganze Gegend ab.«
»Nach mir sucht er hoffentlich vergebens.«
»Bevor du gehst«, sagte Claire ein wenig verlegen, »sollte ich dir eigentlich noch meinen Dank aussprechen.«
»Das ist nicht nötig.«
»Doch. Bitte nimm... nimm das als kleines Zeichen dafür, daß ich in deiner Schuld stehe.«
Claire zog an ihrer goldenen Halskette und holte eine Phiole aus getriebenem Gold aus dem Mieder. Der betäubend süßliche Duft von Maiglöckchen verbreitete sich aus dem körperwarmen Fläschchen im ganzen Raum. Als Claire Angeline die Kette reichte, schimmerte sie in rotgoldenem Feuer.
»Das ist zu wertvoll. Ich kann es nicht annehmen«, protestierte Angeline.
»Es ist kein Schatz, nur ein Geschenk von Maximilian. Mach doch kein solches Getue wegen dieser Kleinigkeit. Nimm es schon!«
»Also gut, vielen Dank, Claire.« Angeline nahm den sonderbaren Schmuck und streifte ihn sich über den Kopf. In ihren Augen saß ein Lächeln über den jähen Stimmungsumschwung ihrer Kusine von Gereiztheit zu gnädiger Milde.
Claire lachte auf. »Ja, du kannst grinsen. Du darfst diesen Ort verlassen und nach Lust und Laune kommen und gehen. Ach, ich wünschte, ich könnte mit dir tauschen. Was gäbe ich nicht darum, wieder so frei und unschuldig zu sein!«
Es wäre nicht höflich gewesen, darauf zu erwidern, wie wenig ihr selbst ein solcher Rollentausch gefallen hätte. Beim Abschied versprach Angeline Claire, sie so bald wie möglich zu besuchen.
Es dauerte allerdings noch fast eine halbe Stunde, bis sie fortkam. Mutter Theresa bestand darauf, daß sie erst etwas Warmes trank, bevor sie wieder aufbrach, und während Angeline die heiße, mit Vanilleschoten gewürzte Milch mit Honig schlürfte, wurde sie von der Nonne bis ins Detail über
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