Strom der Sehnsucht
erkannte, so verzerrt und bleich war seine Miene, so tropfnaß waren seine Haare vom Regen.
»Du hättest tot sein können«, sagte Rolf schlicht und unverblümt, stand auf und kam auf Angeline zu.
Sie sah ihn an. Die graugrünen Augen standen groß im blassen Oval ihres Gesichts. »Du auch.«
»Ich habe die Möglichkeit, mich zu wehren, du dagegen...«
»Ich dagegen habe nur Verstand und meinen guten Stern? Was für eine Rolle spielt das jetzt? Ich lebe ja noch.« Sie wollte umarmt werden, sie wollte, daß er ihr Wärme und Geborgenheit schenkte. Sie verstand seine Gewissensbisse und sein Pflichtgefühl, auch seinen Zorn, daß sie so viel für ihn gewagt hatte, doch das war ein schwacher Trost.
»Sei nicht so frech zu deinem Lehrer«, erwiderte er leise. »Sehen wir einmal davon ab, daß ich um dich zittere und bebe. Ich will wissen, welches böse Gerücht, welche Perfidie dahintersteckt, daß du überhaupt eine Notwendigkeit gesehen hast, hierherzukommen.«
Sie machte den Mund auf, um es ihm zu erzählen, aber er nahm unvermittelt ihren Arm und führte sie in die wärmende, schützende Blockhütte. Drinnen trat er an den Kamin und legte mit flinken, geschickten Bewegungen Holz auf die erlöschende Glut. Als das Feuer zu lebensspendender Wärme aufloderte, zog er Angeline den durchweichten Mantel aus, nahm eine Decke von einem der Betten, legte sie ihr um und schob einen Stuhl für sie ans Feuer. Erst dann durfte sie sprechen.
Die Hitze durchdrang ihre klammen Kleider bis auf die eiskalte Haut. Angeline zitterte, aber ihre Stimme war fest. Es kostete sie Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, doch ihre Geschichte war ja nicht lang.
»Bist du sicher, daß Morning Star keinen Hinweis fallen ließ, wer sie zu dem Spanier geschickt hat?« fragte Rolf und starrte stirnrunzelnd ins Feuer. Er nahm die Hitze, die davon ausging, kaum wahr, obwohl er näher an den Kamin herangetreten war.
»Ja. Außerdem hatte ich auf dem Weg hierher viel Zeit, darüber nachzudenken.«
Er schwieg einen Moment, und als er den Mund aufmachte, schienen ihr seine Worte keinen Zusammenhang zu dem Thema zu haben. »Oskar wurde nicht von vorne getroffen, sondern in die Seite, und zwar in die rechte.«
Angeline starrte ihn an. Das Staunen verschwand allmählich aus ihrem Gesicht und machte dem Entsetzen Platz. Der Graben, in dem der Spanier mit seinen Männern gelegen hatte, befand sich aus der Sicht der angreifenden Garde links von der Blockhütte. Rolfs kampferprobte Gefährten hatten sich nicht auf einmal, sondern in mehreren Gruppen hineingestürzt, wahrscheinlich aus verschiedenen Richtungen. Oskar - das bewies die Stelle, an der er fiel - war bei denen, die einen Frontalangriff führten. Das bedeutete, daß ihn in der ersten Verwirrung, als die Falle zuschnappte, einer der eigenen Leute erschossen haben mußte. Zögernd zwang sich Angeline zu einer weiteren Schlußfolgerung: Es war kein Unfall.
Argwöhnte Rolf etwas? Der dumpfe Schmerz, der aus der Tiefe seines Blickes sprach, gab darauf Antwort. Er dachte dasselbe, und diese Erkenntnis quälte ihn. War Oskar in der Dunkelheit mit ihm verwechselt worden ? Oder war es Absicht gewesen, auch wenn der Grund im dunkeln blieb? Hatte Oskar etwas gewußt, vermutet oder gesehen, ohne daß es ihm selbst bewußt gewesen war?
Angeline sah auf. Ihr schwirrte der Kopf von Oskars Theorie, es gebe einen vom König gedungenen Mörder. Als sie Rolfs angespannte Miene erblickte, hielt sie den Mund. Er hatte im Moment Sorgen genug, so daß sie ihn nicht auch noch mit der Möglichkeit behelligen wollte, daß ihm sein eigener Vater den Tod wünschte. Mitten im Schlachtgetümmel hatte Rolf sich um sie gekümmert, sie aufgewärmt, sie zugedeckt und ihr seine innersten Gedanken anvertraut. Sie konnte ihm das doch nicht vergelten, indem sie ihm solch einen Schmerz zufügte, nicht jetzt.
Statt dessen fragte sie: »Was ist mit Claire?«
»Eine gute Frage. Wir wollen sehen, was unser spanischer Freund dazu zu sagen hat.«
Wenn Don Pedro sich eingebildet hatte, er könne sich mit Hilfe dieses Wissens aus der Schlinge ziehen, fand er dafür keine Bestätigung. Rolf wollte keinen Handel abschließen und blieb dabei. Er teilte dem Spanier mit, daß die Entscheidung über sein Schicksal McCullough überlassen sei, er selbst könne höchstens Don Pedros Lage mehr oder weniger angenehm gestalten.
Angeline erlebte mit, wie der kriegerische Prinz aus dem harten spanischen Räuber die Information herausholte, die er
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