Strom der Sehnsucht
türkisblauen Augen stand ein grüblerischer Ausdruck. In diesem Moment des Schweigens hörte man die Absätze eines Frauenschuhs klappern und Röcke rauschen. Claire, die immer noch den weißen Taftmorgenrock trug, erschien im Treppenhaus.
»Was ist denn los, Etienne? Ich habe Schüsse gehört und Rauch gerochen, ich bin ganz sicher...«
Sie schwieg, und alle vernahmen einen Schußwechsel auf der Straße. Angeline sah ihre Kusine durch den Raum zwischen ihnen an, sah ihr Gesicht vor Entsetzen erbleichen, als sie von Rolf zu Etienne schaute.
»Du hast doch gesagt, daß sie weggegangen sei«, rief sie mit erhobener Stimme. »Du hast gesagt, sie sei fort.« Als der Mann mit einem Blick auf Meyer die Achseln zuckte, wandte sie sich an ihn. »Nicht noch einmal, Meyer. Diesmal mache ich nicht mit, diesmal nicht!«
»Ich glaube«, sagte Rolfs Halbbruder mit spöttischer Galanterie, »es ist an der Zeit, daß uns die Damen verlassen. Was sagt Ihr dazu, mein Prinz?«
»Geh mit ihm«, flüsterte Rolf, ohne Angeline anzusehen.
»Nein.« Sie warf den Kopf zurück, und in ihren graugrünen Augen lag Trotz, aber auch ein stilles Flehen.
Sein Blick war dunkelblau, als er sie ansah. »Obwohl ich deinen Entschluß zu schätzen weiß und nichts lieber täte, als in deinen Armen zu sterben, ein so trostreiches Kissen kann ich nicht annehmen.«
Rolf schob Angeline zur Tür. Er gab den Anstoß, aber der Impuls, der sie weitertrieb, kam aus ihrem Inneren heraus, aus ohnmächtiger Wut, aus Haß und aus Angst. Sie stürzte sich Hals über Kopf auf den Mann mit der Waffe und vertraute darauf, daß er annahm, sie hätte bei ihrem Satz in die Freiheit keine Kontrolle über ihre Glieder. Ihre Hände wurden zu Klauen, sie schlug ihm die Pistole aus der Hand und zielte wie ein Raubvogel mit den Nägeln nach seinen Augen.
Etienne schrie auf. Die Pistole fiel mit Gepolter zu Boden. Angeline wirbelte herum und sah Claire mit zusammengepreßten Lippen und wild aufgerissenen Augen im Handgemenge mit dem Grauäugigen. Neben ihr blitzte ein Schuß, daß der Raum davon widerhallte. Claire stöhnte leise auf, ihr Mund stand offen, die Augen waren weit aufgerissen vor Überraschung und Entsetzen. Sie brach zusammen, und die Rüschen ihres Morgenmantels färbten sich rot.
Rolf konnte seine Pistole nicht verwenden, weil er fürchten mußte, die beiden Frauen zu treffen. In wilder Freude hörte Angeline, wie er zu ihr lief. Da warf sich ihr plötzlich ein kräftiger Arm um den Hals, der sie würgte und rückwärts an Meyer heranzog; er holte ein Messer aus dem Stiefel und setzte es ihr an die Kehle.
»Halt«, rief Meyer neben ihrem Ohr.
Fast schien es, als könne Rolf die heftige Wut seines stürmischen Angriffs nicht mehr bremsen. Bleich und keuchend kam er nur wenige Zoll vor ihnen zum Stehen.
»Etienne«, sagte Meyer mit Genugtuung in der Stimme. »Nehmt ihm die Pistole ab.«
Rolf würdigte den Menschen kaum eines Blickes. »Ich würde es nicht darauf ankommen lassen. Ihr seid entbehrlich, und auf diese Entfernung kann er seinen Schild nicht aufgeben, wenn es mir einfiele, Euch zu eliminieren.«
Der Mann, der sich Etienne nannte, zögerte, und in diesem Augenblick nahm Rolf sein Messer aus dem Hosenbund und hielt es locker in der linken Hand.
»Dummkopf!« Meyer spuckte vor Etienne aus und packte fester zu, so daß Angeline kaum noch Luft bekam.
Rolf hatte die blauen Augen auf den Arm gerichtet, der ihr die Kehle zuschnürte, und fragte: »Was nun, teurer Bruder? Du reißt das Maul weit auf und beweist viel Erfindungsgabe dabei, dir Hindernisse aus dem Weg zu räumen, aber wenn du auch nur einen Tropfen von Angelines Blut vergießt, schnitze ich dir meine Initialen ins Rückgrat und mache mir aus deinem Schlüsselbein eine Pfeife. Stich zu, und nichts auf diesem miesen staubigen Stern kann dich retten - gar nichts.«
Trotz ihrer entsetzlichen Lage fühlte Angeline den dringenden
Wunsch, sich um Claire zu kümmern. Vielleicht verblutete sie gerade jetzt. Etienne hatte sie kaum eines Blickes gewürdigt. Nun zog er sich langsam zurück.
»Dein Halbbruder macht sich aus dem Staub«, höhnte Rolf, als sich der Franzose schleunigst durch die Tür zur Veranda davonmachte. »Jetzt sind nur noch wir beide da - und Angeline. Torheit, komm ans Licht, ich mache dir einen Vorschlag. Ich lege die Pistole weg, wenn du Angeline losläßt. Wenn du dich unbedingt mit mir messen willst, kannst du deine Geschicklichkeit mit der Klinge in einem fairen
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