Strom der Sehnsucht
längst gehegte Zweifel über ihre moralische Stärke enthüllen. War sie nicht schon von jeher eigensinnig und pflichtvergessen gewesen, würde es heißen. Ein anständiges Mädchen von keuscher Zurückhaltung wäre längst verheiratet und aus dem Haus. Was für ein Jammer, daß Madame de Buys sie auf dem Hals hatte!
Aber Rolf ließ sie gewiß nicht zurück zu ihrer Tante, bis Claire gefunden war. Und wenn es soweit war, was würde Rolf dann tun? Claire ebenfalls hierherbringen? Würde er ihr auf dieselbe Weise zusetzen wie Angeline?
Sie runzelte die Stirn. Es stand zu bezweifeln, daß er damit bei Claire erfolgreicher sein würde als bei ihr. Konnte sie doch mehr über Maximilians Tod wissen, als sie erzählt hatte? Unfaßbar, daß sie eine andere Rolle als die einer Zuschauerin gespielt haben sollte, die zur falschen Zeit am falschen Ort war. Rolf glaubte offenbar, daß Claire Maximilian irgendwie betört und abgelenkt hatte und er deshalb zu Tode gekommen war. Unmöglich, Angeline war sich ganz sicher. Allerdings hätte sie noch vor vierundzwanzig Stunden auch für unmöglich erklärt, daß Claire Maximilians Mätresse gewesen war.
Was sie sich dabei am wenigsten erklären konnte, war Claires Angst. Wenn sie zur Tatzeit nur zufällig anwesend gewesen war, wozu dann die kopflose Flucht? Warum hatte sie sich nicht als Zeugin bei der Polizei gemeldet, um bei der Suche nach dem Mörder des Mannes zu helfen, den sie angeblich so sehr liebte? Das öffentliche Aufsehen wäre freilich unangenehm gewesen, und vielleicht wäre auch der Schatten eines Verdachtes auf sie gefallen, aber wäre das nicht immer noch besser gewesen als das verzweifelte, gehetzte Leben, zu dem sie in den letzten Wochen gezwungen war?
So betrachtet, schien Rolfs Ersuchen, mit Claire zu sprechen, nicht zuviel verlangt. Warum verhielt sich ihre Kusine denn so unvernünftig? Wenn sie von Angelines Verschwinden erfuhr, erinnerte sich Claire vielleicht an den Posten auf der Landstraße und erriet, wer sie gefangenhielt und aus welchem Grund. Ob sie in diesem Fall freiwillig zum Prinzen kommen und ihm die Informationen geben würde, die sie besaß? Der Gedanke an Claire, wie sie sie zuletzt gesehen hatte, in ihrer Panik und Selbstsucht, gab Angeline nicht viel Hoffnung.
Es gab aber auch noch eine andere Möglichkeit. Konnten Claires Furcht und Rolfs Entschlossenheit beide derselben Ursache entspringen, nämlich, daß Claire etwas wußte, das den Prinzen mit dem Tod seines Bruders in Zusammenhang brachte? Angeline starrte lange ins Feuer, dann schüttelte sie den Kopf und widmete sich wieder ihrem Bad.
Sie seifte sich sorgfältig ein, spülte und ließ sich in das heiße, parfümierte Wasser sinken. Sie nahm sich Zeit zu diesem Ritual, hatte sie doch nichts anderes zu tun. Sie sah sich im Zimmer um, betrachtete die Wandteppiche, die prächtigen, aber verschossenen Bettvorhänge, die Dielen aus Zypressenholz, die Bettvorleger. Ja, dieses
Quartier paßte besser zum Prinzen und seinen Leuten als das Herrenhaus der de la Chaises, auch wenn es an Glanz und Grandeur zu wünschen übrig ließ. Ohne es wäre ihr Schicksal allerdings wahrscheinlich nicht so dramatisch ausgefallen.
Als das Wasser abkühlte, stieg sie aus dem Zuber und trocknete sich mit dem Handtuch ab. Dann wickelte sie sich mit grimmiger Miene wieder in das Laken. Sie trat an die Waschkommode, nahm einen silbernen Kamm und machte sich daran, den verfilzten kastanienroten Wirrwarr ihrer Frisur in Ordnung zu bringen.
Hatte Sarus an der Tür gelauscht, oder war es Zufall, daß er gerade jetzt zurückkehrte? Sie wußte es nicht. Über dem Arm hatte er ihren Unterrock, ihr Kleid und eine frische weiße Hemdbluse, wie er selbst eine trug.
Er verbeugte sich. »Ich habe mich Eurer Kleidung angenommen, Mademoiselle, hege aber die Befürchtung, daß das Ergebnis unbefriedigend ist. Wenn Mademoiselle erlauben, werde ich den Schaden verbergen.«
Mit unpersönlicher Miene reichte er ihr erst das Kleid und den Unterrock, dann die Bluse. Dabei musterte er sie durchdringend mit den dunklen Augen unter schrägen Augenbrauen und stellte sich zwischen sie und die Tür.
Auf eine der Brusttaschen der Hemdbluse war in Satin eine Krone gestickt. Um hineinzuschlüpfen, mußte man sie über den Kopf ziehen. Eine geflochtene Schärpe aus himmelblauer Seide gehörte dazu. Sarus’ Idee war offenbar, daß Angeline sie über dem Kleid tragen sollte, um die zerrissenen, nur notdürftig geflickten Stellen im zarten
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