Strom der Sehnsucht
Musselinstoff zu überdecken.
Als er sich zum Gehen wandte, streckte ihm Angeline das Kleidungsstück entgegen. »Es geht nicht.«
»Ist es nicht schön... modisch genug?« fragte der Diener mit besorgtem Blick. »Es gibt in diesem reinen Männerhaushalt nicht allzuviel Auswahl.«
»Ich möchte es ihm nicht wegnehmen.«
»Das macht nichts«, erwiderte er, und seine Miene hellte sich auf, während er zur Tür ging. »Nehmt es nur, Mademoiselle, und wenn Ihr Euch angekleidet habt, wollt Ihr vielleicht hinuntergehen, damit ich das Zimmer für die Rückkehr Seiner Hoheit zurechtmachen kann.«
Er sagte das in respektvollem, aber festem Ton. Der Diener war auf seine Weise ebenso anmaßend wie sein Herr. Nur ärgerlich, daß ihre Neigung seinem Vorschlag genau entsprach.
Die Bluse war keine schlechte Idee. Sie ähnelte jenem Umhang, Kasack genannt, der letztes Jahr dernier cri gewesen war. Die Ärmel waren Angeline zu lang, doch sie krempelte sie auf. Dann band sie sich die Schärpe um die Taille, was ihrer Erscheinung eine Art folkloristischen Schick verlieh. Dieser Eindruck wurde noch durch das frei herabfließende rostrote Haar und die vom heißen Bad geröteten Wangen unterstrichen. Da sie die Nadeln auf der Flucht verloren hatte, mußte das Haar offen bleiben, daran war nichts zu ändern. Sie suchte nach ihren Schuhen, fand schließlich den einen im Bettzeug und den anderen nicht weit davon, schlüpfte hinein und ging zum Tischchen an der Bettkante.
Dort lag das Halsband, das ihr Claire geschenkt hatte, und glitzerte im morgendlichen Licht. Sie nahm es in die Hand und ließ es dann wieder fallen. Rolf hatte recht: Maiglöckchen paßten nicht zu ihr, und das Flakon war eigentlich zu schwer und zu reich verziert für ihren Geschmack. Als sie es betrachtete, kam ihr plötzlich ein vager Verdacht. Nein, Claire hatte nicht wissen können, daß Rolf sie entführen würde, und konnte wohl auch nicht gewollt haben, daß er sie für die Kusine hielt, das konnte einfach nicht sein. Und selbst wenn Claire diesen Hintergedanken gehegt haben sollte, hätte sie damit einen Fehler begangen. Ohne das Parfümkettchen wäre Rolf nicht so sicher gewesen, daß sie das Versteck der Kusine kannte, und weniger entschlossen, sie gefangenzuhalten. Wie dem auch sei, sie konnte es nicht anlegen und wollte es nie wieder tragen. Sie ließ das schimmernde Geschmeide auf dem Tisch liegen, durchquerte das Zimmer und ging zur Tür hinaus.
Bis auf den großen Saal im unteren Stockwerk war das Haus im georgianischen Stil erbaut, die obere Etage wurde von einem breiten Flur geteilt. Angeline widerstand nicht der Versuchung, einen flüchtigen Erkundungsgang den Korridor entlang zu unternehmen, den ein persischer Läufer bedeckte. Mehrere Türen gingen auf den
Flur, dahinter lagen Schlafzimmer wie das, aus dem sie gerade gekommen war, insgesamt sechs an der Zahl. Am anderen Ende gab es eine schmale Holztreppe, die das Gesinde benutzte, um Nachttöpfe zu leeren und Tabletts herauf- oder hinunterzutragen. Aus Furcht, auf Sarus zu stoßen, wandte sie sich in die andere Richtung.
Einladend schwangen sich die Geländer der breiten Haupttreppe ins Parterre. Angeline zögerte und stieg dann vorsichtig Schritt für Schritt hinab. Sie blickte sich im Saal um, ohne jemanden entdecken zu können. In dem riesigen Kamin an seinem Ende knisterte ein rauchendes Feuer, und auf dem Tisch waren die Teile einer ziselierten Silberpistole ausgebreitet, die wohl zum Reinigen auseinandergenommen worden war. Die Haustür stand offen und gab den Blick auf den Fuhrweg frei, der sich durch die Wälder zum Herrenhaus der de la Chaises schlängelte. Monieur de la Chaise wäre schockiert, wenn er entdecken würde, daß man sie gegen ihren Willen auf seinem Besitz festhielt. Er könnte ihr bestimmt helfen, wenn es ihr gelang, ihn zu erreichen.
Bevor sie einen Schritt tun konnte, näherten sich von der Rückseite des Hauses schwere Fußtritte. Ein Mann trat durch die Tür gegenüber der Treppe. In der einen Hand hielt er einen Humpen und in der anderen ein Stück Brot mit einem Brocken Käse. Es war der grauhaarige, einäugige Veteran Gustav.
»Ihr seid schon auf, meine Hübsche?« rief er mit einer Stimme, die durch die Halle dröhnte. Er winkte einladend mit dem Humpen. »Ihr werdet einen Bissen essen und ein Schlückchen zu Euch nehmen wollen, um die Zeit bis zum Abendessen zu überbrücken.«
»Nein, danke.«
»Kommt, setzt Euch zu mir. Unterhaltet mich ein bißchen,
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