Strom der Sehnsucht
ebenso schneidend zurückgeben. Das wird seinen Geist beschäftigen und ablenken, und das hat er jetzt am nötigsten.«
»Ich soll die Unterhalterin spielen? Wenn ich Bauchtanzen könnte, würde das sicher auch freundlich aufgenommen?«
Er blickte sie nachdenklich an und drehte sich dabei noch ein wenig weiter zu Angeline um, um ihr besser ins Gesicht sehen zu können. »Ihr lacht darüber, aber wenn Ihr ihn wenigstens vorübergehend von dieser Affäre, die ihn peinigt, ablenken könntet, wird die Leibgarde es Euch danken.«
»Und das ist selbstverständlich mein dringendster Wunsch!«
»Ihr seid ebenso schlimm wie Rolf«, murrte er, schlang den letzten Brotbissen hinunter, lehnte sich zurück und stellte den Humpen auf die Armlehne seines Stuhles. »Vielleicht werdet Ihr ihn besser verstehen, wenn ich Euch ein wenig von ihm erzähle.«
Es folgte eine umständliche Geschichte mit zahlreichen Abschweifungen und gespickt von sarkastischen Bemerkungen. Rolf, zweiter Sohn des sechsten Herrschers Rutheniens aus dieser Dynastie, hatte bei der Geburt seine Mutter verloren. Als schwächliches, höchst reizbares Kind war er seinen Kinderfräuleins überlassen worden, während sein Vater sich ausschließlich um die Erziehung des robusten älteren Sohnes und Thronerben kümmerte. Maximilians Ausbildung war von frühester Kindheit an in die Hände von Lehrern gelegt worden, die auf ihrem Gebiet eine Kapazität waren.
Rolf dagegen hatte der König der Obhut eines venezianischen Gelehrten anvertraut, eines merkwürdigen Herrn, der die Kunst, insbesondere die Lyrik, liebte und ein leidenschaftlicher Mathematiker war. Der Unterricht fand unter freiem Himmel statt. Eine geregelte Lebensweise, viel Sport und frisches, einfaches Essen bewirkten zusammen mit geistiger Nahrung, daß der schwächliche Infant zu einem kräftigen, schlauen und gebildeten jungen Mann heranwuchs. Aber obwohl er nunmehr in der Lage war, den älteren Bruder in allen Diskussionen mit einem Wortschwall in Grund und Boden zu reden, und ihn bei sportlichen Wettkämpfen fast immer besiegte, lehnte sein Vater es ab, seine Geschicklichkeit und Gewandtheit anzuerkennen. Der König sah es nun einmal lieber, daß Maximilian gewann, und wollte nicht wahrhaben, daß Rolf den älteren Bruder in einem ehrlichen Kampf bezwingen konnte.
Maximilian aber nahm es ihm dagegen keineswegs übel. Die beiden Brüder waren viel zusammen, bis sie erwachsen wurden und ihrer eigenen Wege gingen. Rolf, der von den meisten gesellschaftlichen Anlässen und jeder Verantwortung bei Hofe ausgeschlossen war, trieb sich mit allerlei fahrendem Volk und zwielichtigen Gestalten herum und machte es sich zur Gewohnheit, Kämpfe auszutragen für Dinge, die ihn gar nichts angingen. So zog er mit seiner handverlesenen Garde kreuz und quer durch Europa und hatte sogar den russischen Großvater besucht, der für den wildesten der ruthenischen Prinzen eine Schwäche hegte. Ab und zu bekam er Max in Paris, Venedig oder Rom zu Gesicht, kehrte aber nur selten nach Ruthenien zurück.
Einige Wochen vor dem Tod seines Bruders wurden Rolf beunruhigende Gerüchte zugetragen. Danach gab es Leute, die eine Änderung in der Thronfolge anstrebten, sowohl dem König als auch dem Thronerben den Tod wünschten und bereit waren, gut dafür zu bezahlen.
Bei seiner Rückkehr in die Heimat konnte Rolf allerdings nichts herausbekommen. Alles sah aus wie immer, abgesehen von der schönen Mätresse aus den jungen Vereinigten Staaten, die sich Maximilian genommen hatte und die durch ihre Schönheit und Herkunft zur Prinzessin prädestiniert war, kurz, in jeder Hinsicht bis auf ihren Ruf - jedenfalls war das Gustavs Meinung. Maximilian hatte sich anscheinend nicht verändert. Er ging wie immer in die Oper, in den Biergarten, auf die Jagd und machte regelmäßig seinem Vater seine Aufwartung. Nach einer gewissen Zeit ließ er seine rothaarige Geliebte fallen - er hatte wohl genug von ihr - und war in jeder Beziehung der alte.
Und dann geschah es. Maximilian wurde ermordet. Als der König die Nachricht erhielt, erlitt er einen Schlaganfall, nicht den ersten -er hatte schon im Frühjahr einen gehabt. Die Lage war kritisch. Einige Stunden fürchtete man um sein Leben. Rolf verließ den Palast, als sein ans Bett gefesselter Vater aufgrund eines heimtückischen
Gerüchts ihm die Schuld am Tode seines Bruders gab. Er wurde von Wegelagerern überfallen. Hätte er sich nicht geistesgegenwärtig mit dem Schwert verteidigt, wäre
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