Strom der Sehnsucht
während ich esse, eine einsame Mahlzeit ist eine traurige Sache.«
»Ich bin keine gute Gesellschafterin«, erwiderte Angeline abweisend.
»Es ist eine so angenehme Abwechslung, Euch gegenüberzusitzen statt einem der ungehobelten Stoppelbärte, die mich hier zurückgelassen haben. Ihr müßt nicht sprechen, wenn Ihr nicht dazu aufgelegt seid. Setzt Euch doch!«
Nichts an seinem Verhalten wies darauf hin, daß er sie bewachen sollte, und doch wurde Angeline das Gefühl nicht los, daß er ihre Position zwischen Treppe und offener Tür scharf im Auge behielt. Da sie im Moment nicht ins Schlafzimmer zurückkehren konnte, blieb ihr nichts anderes übrig, als der reichlich ungehobelten Einladung Folge zu leisten.
»Na, so ist es schon besser!«
Dann stellte er sich ihr plötzlich förmlich vor, sprudelte in einer rauhen, kehligen Sprache Namen und Titel heraus und fügte verschiedene Dienstgrade und Ränge aus zahlreichen europäischen Armeen hinzu. Schließlich nahm er einen kräftigen Zug aus dem Humpen - was auch darin sein mochte, es roch jedenfalls nach Alkohol - und fuhr fort: »Ich bin seit zehn Jahren bei Rolf, seit er mündig ist. Ich habe gesehen, wie er mit bloßen Händen eine Musketenkugel auffing, und war dabei, als er wegen einer Wette sein Pferd bei Regen und Dunkelheit die steilen verwinkelten Kopfsteinpflasterstraßen der ruthenischen Hauptstadt hinabjagte, eine berühmte Schauspielerin nach dem letzten Vorhang mit einem silbernen Seil von der Bühne in seine Loge heraufzog und ein Stilettduell mit einem Zigeunerkönig um die Gunst eines wilden Mädchens ausfocht, aber ich habe noch nie erlebt, daß er auf etwas dermaßen erpicht war wie letzte Nacht, als er Eurer unbedingt habhaft werden wollte.«
»Ihr schmeichelt mir - oder dem Prinzen«, erwiderte sie kühl.
»Nein«, erklärte er schlicht. »Als Rolf vorhin herunterkam, hat er gesagt, daß Ihr doch die Falsche wäret. Das ist ein guter Witz, und die Garde wird ihn noch lange damit aufziehen. Er begeht selten Fehler.«
Angeline faltete die Hände und legte sie auf den Tisch. »Ich finde das nicht im geringsten komisch.«
»Daran zweifle ich nicht, meine Liebe. Und die Stimmung, in der er gestern war! Wir fühlten alle mit Euch, aber wenn wir gewußt hätten, daß Ihr... noch ein Mädchen seid, hätten wir...«
»Sogar das hat er Euch erzählt?« Ihre Stimme klang gepreßt.
»O nein. Er spricht überhaupt wenig, unser Prinz. Aber aus dem, was er nicht gesagt hat, und den Anweisungen, wie ich mich verhalten soll, ging es eindeutig hervor.«
»Ach so. Ein... ein Jammer, daß Ihr an einem so schönen Tag drinnen bleiben und mich bewachen müßt.«
»Das ist eine Pflicht wie jede andere. Möchtet Ihr wirklich nichts trinken? Eine Tasse Kakao? Ein Glas Wein?«
Sie schüttelte den Kopf und betrachtete den dunklen Eichentisch. Er war alt und fleckig, und die zahlreichen Kratzer und Kerben verrieten, daß er nicht gerade schonend behandelt worden war. An manchen Stellen sah die Tischkante aus, als hätte sich ein Gast zwischen den Gängen gelangweilt und mit dem Messer daran herumgeschnitzt. Angeline fuhr mit dem Finger über die unzähligen Ränder von Humpen und Gläsern, die die Platte zierten. Unbehaglich knisterte das Schweigen zwischen ihnen. Endlich fragte sie: »Habt Ihr eine Ahnung, wie lange Ihr noch hierbleibt?«
»Solange es dauert.« Er warf ihr unter dichten Brauen hervor einen Blick zu, wobei er sein gesundes Auge zu einem Schlitz verengte. »Macht Ihr Euch schon Gedanken darüber, was aus Euch wird, wenn wir fort sind? Das braucht Ihr nicht. Rolf wird Euch reich entschädigen.«
Ein gezwungenes Lachen entrang sich ihr. »Er ist ein Ausbund der Tugend.«
»Ihr glaubt mir also nicht? Ich versichere Euch, da er in Euer Schicksal eingegriffen hat, wird er Euch nicht fallenlassen.«
»Wenn Ihr meint, daß ich mir einen Platz in seinem Gefolge wünsche, irrt Ihr Euch gewaltig.« Ihre Hände zitterten, und sie ballte sie zu Fäusten.
»Habt Ihr Angst vor ihm?«
»Nein, natürlich nicht.«
Er sah sie gedankenvoll an. »Ich schon, manchmal, wenn er viel getrunken hat. Ihr seid eine wehrlose Frau und fallt für ihn nicht ins Gewicht. Ihr hättet allen Grund dazu.«
»Nett von Euch, mich zu beruhigen.«
Er lächelte ihr zu, biß herzhaft in sein Käsebrot und tunkte die Nase in den Humpen. Nach einem großen Schluck wischte er sich mit seiner schwieligen Hand das Gesicht ab. »So ist es recht. Rolf muß man jedes scharfe Wort
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