Stromschnellen: Roman (German Edition)
Papiertaschentüchern eine Rolle Klopapier. Sie wickelte ein Stück ab.
»Wenn er Geld übrig hatte, hat er damit das Grundstück abbezahlt. Oder seine Schulden beim Zahnarzt.«
»Sieht so aus, als würde das Haus laut Grundstücksvertrag an meinen Vater zurückfallen, sobald ihr zwei Raten im Rückstand seid«, meinte Junior. »Das ist happig. Ich hoffe, der Zahnarzt verlangt deine Zähne nicht zurück.«
»Gibt es eine Lebensversicherung?«, fragte Ricky.
Margo schüttelte den Kopf.
Junior griff eins der vielen Fotos von Luanne heraus und fragte: »Weißt du, wo deine Mutter steckt? Dad sagt, wir sollten dafür sorgen, dass sie ihren Hintern zurück nach Murrayville bewegt. Vielleicht kommt sie jetzt nach Hause.«
»Schaut euch das an!«, rief Ricky und hielt ein Ganzkörperfoto von Margos Mutter hoch, auf dem sie strahlend im Bikini posierte. »Sie sieht aus wie ein Filmstar. Ich weiß noch, wie sie oben ohne in der Sonne lag.«
Wieder wischte Margo sich die Tränen mit dem Ärmel ab.
»Zeig mal ein bisschen Feingefühl, Kumpel«, sagte Junior und trat nach Ricky.
»Tut mir leid, Nympho. Du weißt, dass sie uns allen fehlt.«
Margo hätte gern ein Foto gehabt, das ihre Mutter so zeigte, wie sie sie in Erinnerung hatte: mit einem traurigen Lächeln oder sogar Stirnrunzeln. Luanne hatte manchmal ganze Wintertage im Bett verbracht. Dann hatte Margo mit ihr kuscheln oder bei ihr im Bett ein Buch lesen können, und Luanne hatte Margos Nähe offenbar als tröstlich empfunden.
Ricky Murray zog einen nagelneuen schokoladenbraunen Ledergeldbeutel aus der Blechschachtel, der genauso aussah wie der, den Margos Vater immer bei sich gehabt hatte. Er reichte ihn Margo. Sie zog die beiden zusammengerollten Zwanzigdollarscheine, die sie von Brian Ledoux bekommen hatte, aus der Tasche, strich die Banknoten glatt und steckte sie in den Geldbeutel. Auch den Werksausweis der Metallfabrik und die zusammengefalteten Geburtsurkunden schob sie hinein.
»Wusstest du, dass dein Dad eingeäschert werden wollte?«, fragte Junior.
Sie schüttelte den Kopf. »Dafür ist kein Geld da.«
»Keine Sorge. Du hast ja gehört, was die Bullen gesagt haben: Mein Dad kommt dafür auf.«
Sie nickte. Obwohl ihre Trauer erdrückend war, hatte das Kiffen geholfen – Junior hatte recht gehabt. Vielleicht kam sie über den Tod ihres Vaters hinweg, indem sie auf Dauer neben sich stand.
Junior zündete einen zweiten Joint an. Nach dem ersten Ausatmen verkündete er: »Bis Weihnachten werde ich nicht mehr kiffen können. Es ist tierisch schwer, was in dieses Gefängnis zu schmuggeln. Ich werde Mom und Dad versprechen, dass ich alles tue, wenn ich nur wieder nach Hause darf. Oder ich drohe damit, nach Alaska abzuhauen und wie Onkel Loring auf einem Fischkutter anzuheuern.«
»Glaubst du, Billy muss ins Gefängnis?«, fragte Margo.
»Ich weiß nicht, was meinem hitzköpfigen kleinen Bruder blüht. Wenn er auf meiner Schule wäre, würde er auf jeden Fall im Karzer landen.« Junior stand auf. »Ich muss heim, Nympho, und Ricky muss zurück zur Arbeit. Er setzt uns zu Hause ab. Komm.«
»Ich möchte mein Boot mitnehmen.«
»Grandpas Boot? Das können wir später holen.«
»Zuerst muss ich duschen. Bitte lasst mich eine Weile allein.«
»In Ordnung. Aber mach nicht zu lange. Du solltest rechtzeitig bei uns sein, um heute Abend mit in die Kirche zu gehen. Ma besteht darauf, dass alle mitkommen.«
»Ich verspreche, dass ich bald da bin. Geht ruhig schon.«
Junior umarmte sie, drückte ihr ein Tütchen mit einem Joint darin in die Hand und meinte: »Für den Notfall.« Dann steckte er sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund, schob auch eins in ihren und brach mit Ricky auf.
Kaum war Margo allein, zog sie den Umschlag aus der Gesäßtasche, öffnete ihn, nahm den Brief heraus und glättete ihn. Es war ein kleiner Papierbogen, passend zum rosa Kuvert mit einem comicartigen Flamingo darauf.
Lieber Bernard,
es tut mir leid, dass es zur Scheidung kommen musste. Du weißt, dass ich nie richtig zu Euch gehört habe. Ich glaube, ich würde es nicht verkraften, Margaret Louise jetzt zu sehen, es würde zu sehr schmerzen. Ich melde mich bald wieder bei Dir, wenn sich meine Lage gebessert hat und sie und ich uns besuchen können. Bitte verwende diese Adresse nur im Notfall und gib sie an niemanden weiter.
Alles Liebe, Luanne
Wichtiger als ihre Worte war die Adresse auf dem Umschlag: 1121 Dog Leg Road, Heart of Pines, Michigan. Heart of Pines war die
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