Stromschnellen: Roman (German Edition)
am nächsten Morgen zurück. Mehrere Tage später hatte er sich immer noch nicht blicken lassen. Jeden Morgen, wenn Margo allein erwachte, hörte sie einem Schreivogel zu, der seinem Namen auf einem Ast vor dem Fenster alle Ehre machte, und schon bald konnte sie seinen Ruf perfekt nachahmen. Und an jedem Abend, den Brian fortblieb, lauschte sie dem Orchester aus Grillen, Zikaden und Baumfröschen und entwarf Briefe an ihre Mutter. Mal bemühte sie sich um einen unbeschwerten Ton, mal forderte sie Luanne auf, ihre heikle Lage zu erklären. Kaum hatte sie einen Brief fertig, zerriss sie das Papier und streute die Schnipsel vom Steg ins Wasser.
In den letzten Monaten hatte sie Angst davor gehabt, dass Brian wieder betrunken nach Hause kommen könnte, aber jetzt machte sie sich Sorgen, dass er womöglich überhaupt nicht mehr zurückkam. Anfangs war es ihr schwergefallen, ohne seinen großen Körper neben sich einzuschlafen, aber schon bald streckte sie sich im Bett aus und machte sich breit.
In der Abenddämmerung des achten Tages sah Margo den MerCruiser flussabwärts kommen. Sie lief auf den Steg und winkte. Der schwarzhaarige, bärtige Fahrer entpuppte sich jedoch als Paul. Am anderen Ufer flüchtete sich der hellbraune Hund, vom Lärm des starken Bootsmotors aufgeschreckt, über den Rasen zum Haus, und ein Stück unterhalb der Hütte flatterte ein Graureiher auf, der dort wohl gefischt hatte. Margo blickte ihm hinterher. Es war noch jemand mit Paul im Boot, allerdings nicht Johnny, sondern ein kleinerer Mann. Margo hoffte, dass die beiden Fleisch oder Lebensmittel aus dem Laden mitgebracht hatten. Sie hatte es nämlich satt, immer nur Fisch zu essen. Die Munition war ihr auch ausgegangen, und sie hatte kein Geld mehr, um neue zu kaufen, es sei denn, sie fasste sich ein Herz und löste die Geldanweisung ihrer Mutter ein. Als das Boot langsam am Steg entlangglitt, streckte sie die Hand nach dem Bug aus.
»Was machst du mit Brians Boot?«, rief Margo. Paul stellte den Motor genau in dem Augenblick ab, als sie fragte: »Wo ist er?«
Erschrocken hörte sie, wie ihre Stimme den rauschenden Fluss übertönte. Sie hatte seit Langem nicht laut gesprochen, und mit Paul redete sie normalerweise überhaupt nicht. Hinter dem Fahrersitz lag etwas unter einer blauen Plane, der Form nach ein großes Fass.
»Brian ist im Gefängnis.«
»Warum?«
»Weil er Cal Murray verprügelt hat.«
»Was? Er hat ihn doch nicht verletzt, oder?«
»Und ob er ihn verletzt hat! Sogar schwer. Er hat es für dich getan.«
»Ich hab ihn nicht darum gebeten.« Pauls scharfer Ton war ihr nicht geheuer.
Paul stieg aus dem Boot und vertäute es. »Das war nicht klug von Brian, aber es hat ihm gestunken, dass Cal Murray in die Bar reinmarschiert ist, als würde sie ihm gehören. Cal glaubt, dass ihm ganz Murrayville gehört.«
Murrayville gehört Cal doch auch, dachte Margo. »Was ist passiert?«
»Nichts Gutes«, sagte Paul. Wegen seines schlechten Auges drehte er den Kopf, um sie anzusehen. »Starr mich nicht so an, verdammt.«
Margo hatte ihn nicht anstarren wollen. Sie schaute zurück zur Hütte. Das auf den Stelzen irgendwie staksig wirkende grüne Gebäude verschwamm vor ihren Augen, als sie sich mit Tränen füllten. Sie wischte sich das Gesicht ab und zeigte auf den Fischeimer, den Paul aus dem Boot hievte. »Gib ihn mir«, sagte sie.
»Maggie, Schätzchen, deine Heulerei hilft ihm nicht. Ihm könnte jetzt nur noch ein guter Anwalt helfen, aber den kann er sich nicht leisten.« Paul schlug einen sanfteren Ton an. Er stellte den Eimer auf den Steg und nahm sie in den Arm. Paul war ein wenig dicker als sein Bruder. Er roch seltsam, nach Ammoniak. Sie spielte mit dem Gedanken, ihn von sich zu stoßen und wegzulaufen, aber es wäre verrückt gewesen, in den Wald zu rennen, der voller Brennnesseln und Giftefeu war.
Sie entzog sich seiner Umarmung und packte den Eimer so abrupt, dass sie sich selbst und Paul nass spritzte. Zwei der drei Katzenwelse im Eimer hatten die Länge ihrer Unterarme und lange Barteln. Ihre an Seetang erinnernden Schnurrhaare streiften gegen die Innenwand des Eimers, während sie übereinander hinwegglitten. »Das sind aber große Welse«, stellte Margo fest.
»Wir haben sie flussaufwärts bei Willow Island rausgeholt«, erklärte Paul.
»Wen hast du da mitgebracht?«, fragte sie. Der andere hatte bislang keine Anstalten gemacht, aus dem Boot zu steigen, als wartete er auf ein Zeichen von Paul.
»Ach, das ist nur
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