Stromschnellen: Roman (German Edition)
kannst das Bootnicht verstecken, ich finde es überall!«, schrie Margo, doch Billy war schon außer Hörweite. Sie griff nach dem Rucksack und blickte zum Haus der Murrays. Wenn sie jetzt zur Tür ging, würde Joanna sie hereinbitten und etwas Gutes für sie kochen. Vielleicht würde sie Margo sogar auffordern, zu ihnen zu ziehen. Margo malte sich aus, wie Joanna sie willkommen hieß und in die Arme schloss, so wie sie ihre Söhne immer in die Arme geschlossen hatte, wenn sie etwas ausgefressen hatten. Aber Joanna war nicht ihre Mutter. In diesem Haus würde Margo nur ein Gespenst ihrer selbst sein können, eine zu alt gewordene Zehntklässlerin ohne Gewehr, die Billys Launen ausgeliefert wäre und die Regeln befolgen müsste, die Cal und Joanna für sie aufstellten. Der Versuch, bei den Murrays zu leben, wäre so, als wollte sie den Strom des Flusses aufhalten, als wollte sie das Wasser, das bereits durch das Wehr in den Kalamazoo und den Lake Michigan geflossen war, sammeln und in den Stark River zurückführen. Margo hätte es nicht ertragen, Joanna wiederzusehen, nicht einmal, um sich von ihr zu verabschieden. Wenn sie jetzt fortging, würde sie Joanna nicht im Haushalt und bei der Küchenarbeit helfen können. Und Joanna würde nie erfahren, dass Margo ihr bereits auf andere Art geholfen hatte: Billy nicht zu erschießen war ein Geschenk an die Familie, die sich einst um sie gekümmert hatte.
Eigentlich wollte Margo Billy am Ufer folgen, aber sie überlegte es sich anders. Wenn sie nicht zum Haus kam, würde Joanna sich vielleicht Sorgen machen und die Polizei verständigen oder jemanden nach ihr suchen lassen. Also kramte Margo einen Stift aus dem Rucksack und kritzelte auf die Rückseite ihrer letzten Zielscheibe: Liebe Joanna, Du hast recht, ich muss zu meiner Mutter. Mein Freund bringt mich zu ihr. Danke für das Brot und die Marmelade. Liebe Grüße, MLC . Sie hängte sie mit einer Klammer neben eine Reihe winziger T -Shirts an die Wäscheleine.
Mit dem nassen Gepäck kam sie an Land nur langsam voran. Billy war zwar nicht mehr zu sehen, aber Margo ging davon aus, dass sie das Boot entdecken würde, wenn Billy es irgendwo festmachte oder zurück nach Hause ruderte. Kein Mensch würde es sich antun, das steinschwere Boot auf einen Anhänger zu verfrachten, also würde es auf dem Wasser an ihr vorbeikommen müssen.
In den bald vier Jahren, seit der alte Murray erkrankt war und ihr das Boot geschenkt hatte, war kein Tag vergangen, an dem Margo es nicht gesehen hatte. Drohte der Fluss zuzufrieren, hatten ihr Vater und sie es mit der Seilwinde aus dem Wasser gezogen und an einem Baum vor Margos Fenster festgekettet, wo es auf den Frühling wartete. Die neuen Ruder, die Michael ihr gekauft hatte, waren mit einem glänzenden Material beschichtet, sie glitten glatt wie Glas durchs Wasser, und Margo hatte sich seitdem keinen Splitter mehr eingezogen. Dank dieser Ruder war sie im Wasser ein lautloser Ruderer gewesen, so wie der jagende Indianer mit dem Herzen eines Bärenmarders ein stiller Wanderer und Pirschjäger war.
Bis zum frühen Abend brauchte sie zu Fuß zum Friedhof von Murrayville, obwohl er nur wenige Meilen flussabwärts lag. Unterwegs hatte sie beide Ufer im Auge behalten und war deshalb sicher, dass Billy nicht stromaufwärts an ihr vorbeigerudert war.
Der Friedhof lag genau gegenüber der Metallfabrik auf der anderen Flussseite und wurde von Grandpa Murrays mannshohem Grabstein beherrscht, den er selbst in Auftrag gegeben hatte. Auf der Vorderseite waren zwei springende Forellen und ein Hirschkopf aus dem Stein gemeißelt. Die Rückseite zierten ein Bär und ein Bärenmarder. Einmal hatte Margos Großvater einen Bären aus dem Norden mitgebracht; das Tier hatte fast die ganze Ladefläche seines Pick-ups eingenommen. Margo hatte ihrem Großvater beim Fellabziehen geholfen. Das war unheimlich und zugleich aufregend gewesen, denn der gehäutete Leib hatte wie der eines Menschen ausgesehen.
Margo legte die Hände auf den gemeißelten Bärenmarder mit den gefletschten Zähnen. »Grandpa, du würdest nicht glauben, was alles passiert ist, seit du von uns gegangen bist«, sagte sie. Wie schön es wäre, noch einmal die Stimme des alten Mannes zu hören! »Ich habe so viel gelernt. Im Ernst.«
Hätte sie vor seinem Tod bloß mehr mit ihm geredet und ihm Fragen über die Jagd, über Wölfe und den Bärenmarder gestellt, der sich im Norden in sein Camp eingeschlichen und alles verwüstet hatte! Einen
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