Stromschnellen: Roman (German Edition)
diese Gewissheit ebenfalls verspürt, als sie daran dachte, was er ihr angetan hatte und womöglich Michael antun würde. Aber jetzt fühlte sie diese Ruhe und Gewissheit nicht.
»Du kannst mich ruhig erschießen, wenn du willst. Ich bleib einfach hier stehen. Im Jugendknast hab ich mit ein paar Typen um Geld gewettet, dass ich nicht mal zucke, wenn sie mir brennende Zigaretten auf die Haut drücken. Sie haben schon würgen müssen, weil es so stank, und ich hatte noch immer keinen Mucks gemacht.«
Margo zog den Hahn nach unten und drückte langsam auf den Abzug, um die Marlin zu sichern, dann ließ sie die Waffe halb gespannt seitlich an sich herabhängen. Sie dachte an Cal und Joanna und daran, wie traurig sie wären, wenn sie Billy erschießen würde, und wie entsetzlich es für Toby oder Tommy wäre, wenn einer von ihnen beim Graben nach Regenwürmern oder beim Angeln am Fluss auf die Leiche ihres Bruders stoßen würde. Sie war heilfroh, dass Billy nicht tot war. Die ganze Welt hätte sich verändert, und zwar so grundlegend, wie sie sich verändert hatte, als ihr eigener Vater umgekommen war oder als sie Paul erschossen hatte. Wenn sie Billy für seine Tat erschossen hätte, hätte womöglich jemand sie für das, was sie Billy angetan hatte, erschießen müssen. Sie holte tief Luft und seufzte.
»Ich nehme das Boot mit«, verkündete Billy. Er hatte The River Rose schon immer haben wollen. Kurz nach Grandpa Murrays Tod hatte er ihr das Boot schon einmal weggenommen, aber Cal hatte dafür gesorgt, dass er es ihr zurückgab.
»Grandpa hat es mir geschenkt«, protestierte Margo.
»Grandpa hatte sie nicht mehr alle, als er es dir geschenkt hat. Wenn du mich aufhalten willst, musst du mich umbringen, und dann kommst du ins Gefängnis, weil du schon siebzehn bist. Ma hat deine Schüsse bestimmt gehört. Normalerweise wär sie längst hergekommen, aber wahrscheinlich plärrt der Spasti.« Wieder glaubte Margo, die Geister der Murrays neben Billy zu sehen.
»Bitte nimm es nicht mit, Billy.«
»Zu spät, Nympho. Jetzt gehört es mir.« Er stieß das Boot vom Ufer ab und sprang hinein. Margo legte die Büchse ins Gras und lief die Böschung hinunter ins Wasser. Sie bekam das Heck zu fassen, und als Billy losruderte, wurde sie ins tiefere Wasser gezogen. Sie schaffte es zwar, ihn zu bremsen und sogar fast zu stoppen, aber da stieß Billy mit beiden Füßen ihren Rucksack von der Rückbank, und sie musste loslassen, um ihn aufzufangen. Mit aller Kraft ruderte Billy in die Flussmitte.
»Ich hol es mir zurück!«, rief sie. Sie stand im hüfthohen Wasser und bemühte sich, den Rucksack aus der Strömung herauszuhalten. »Du kannst das Boot nirgends verstecken, Billy. Ich kenne an diesem Fluss jedes Versteck. Und wenn du es an einem Baum festkettest, hacke ich den Baum ab.«
»Du wirst das Boot nie wieder anrühren!«, brüllte er zurück. »Wie kannst du es wagen, mit Dads Büchse auf mich zu schießen?«
»Onkel Cal wird dafür sorgen, dass du mir das Boot zurückgibst, das weißt du.« Sie war nicht so zuversichtlich, wie sie sich gab – vielleicht sprang ihr Cal diesmal nicht gegen seinen eigenen Sohn bei. Als Cal Billy das letzte Mal zur Rückgabe gezwungen hatte, hatte Billy vier Schlangen ins Boot gelegt, bevor er es zurückbrachte. Eine von ihnen, eine orangeweiße Dreiecksnatter, hatte zur Hälfte eine der drei kleineren Strumpfbandnattern verschlungen. Margo hatte das Knäuel aus Schlangenfleisch damals einfach mit dem Ruderblatt hochgehoben und ins seichte Wasser gekippt, aber beim Gedanken daran wurde ihr jetzt noch übel.
Sie stieg die Böschung hoch und warf den feuchten Rucksack, an dem die gefaltete Plane, der Schlafsack und die kleine Schaufel festgeschnürt waren, auf den Boden. Dann schnappte sie sich die Büchse, spannte den Hahn und nahm Billy ins Visier. Bei seinem Anblick verdoppelte, ja, verdreifachte sich ihre Wut, und sie musste auf irgendetwas schießen. Also zielte und schoss sie auf den Bug des Boots, genau zwischen die Wörter River und Rose .
»Mir geht es nur darum, dass du es nicht kriegst, Nympho!«, rief Billy. »Wenn du mich erschießt, hast du im Gefängnis auch nichts von deinem schönen Boot.«
Billys Kaltschnäuzigkeit beeindruckte sie. Sie selbst hätte es nie über sich gebracht, sich mit glühenden Zigaretten versengen zu lassen, um ihren Mut zu beweisen. Billy fuhr flussabwärts, zusammen mit ihrer Angelausrüstung, der Petroleumlampe und ihrem Wasserkanister.
»Du
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