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Stromschnellen: Roman (German Edition)

Stromschnellen: Roman (German Edition)

Titel: Stromschnellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bonnie Jo Campbell
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habe im Sommer Kindern in einem Reservat im Norden von Michigan Matheunterricht gegeben. Jetzt bin ich auf dem Heimweg – sofern ich den Verzehr dieses Kaninchens überlebe.«
    Etwas später spießte Margo das Kaninchen auf einen angespitzten Stock aus Hickoryholz und grillte es über dem Feuer. Sie versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf die Vögel und Wassertiere in der Nähe des Lagers zu richten, aber der Indianer lenkte sie ab, und es kostete sie all ihre Kraft, ruhig zu bleiben. Als das Kaninchen fast durch war, legte sie die Maiskolben dicht ans Feuer und garte sie in ihren Hülsen. Anschließend saßen sie und der Indianer sich im Schneidersitz am Feuer gegenüber und aßen von Papptellern, die er aus seinem Wagen geholt hatte.
    »Ich esse gern, was meine Vorväter gegessen haben«, erklärte er.
    Margo fand, dass das Kaninchen besonders schmackhaft war. Wahrscheinlich hatte es sich in einem der Gärten hier an Bohnen und Kohl fettgefressen.
    Kaum waren sie mit dem Essen fertig, ging die Sonne unter. Die Pappteller verbrannten sie im Feuer. Der Indianer ging zu seinem Wagen, kehrte mit einer Flasche Whiskey, Marke »Wild Turkey«, zurück, setzte sich und hielt ihr die Flasche hin. »Möchtest du einen Schluck?«
    »Nein. Haben Ihre Vorväter das auch getrunken?«
    »Oh, die Europäer haben uns auch ein paar nützliche Dinge mitgebracht.« Er öffnete die Flasche und berauschte sich am Aroma. Er schien sich bereits zu entspannen, noch bevor er etwas getrunken hatte. »Ich habe noch eine Flasche Whiskey aus dem Reservat, aber die hebe ich auf, bis ich am Kalamazoo bin.«
    »Auf dem Weg dorthin ist ein Wehr.«
    »Mit dem Auto ist das kein Problem.« Beim Trinken blickte er auf den dunkler werdenden Fluss. »Der Kalamazoo ist hoffnungslos verschmutzt, den kriegt man nie wieder sauber. Es ist überall im Land dasselbe, alles ist vergiftet«, klagte er. Schon nach wenigen Schlucken klang seine Stimme anders, tiefer.
    Margo zog das Waffenreinigungsset aus dem Rucksack. Sie reinigte den Lauf der Büchse, ohne sie zu zerlegen, und verpestete mit dem Lösungsmittel die Luft. Danach schraubte sie den Putzstock wieder auseinander, wickelte die Teile in ein altes T-Shirt von Michael und räumte die Sachen weg. Es wurde kühler, und die Sterne funkelten wie verrückt am Himmel. Margo zog die Carhartt-Jacke ihres Vaters fester um sich und beobachtete den Indianer dabei, wie er sich betrank. Im Feuerschein sah sie, wie sich seine Augen röteten und seine Lider erschlafften. Er ließ die Schultern hängen und sackte in sich zusammen. Schließlich kippte er, die leere Whiskeyflasche mit der rechten Hand umklammernd, zur Seite und blieb entspannt wie ein Fötus liegen.
    Um diese Stunde ging Margo gewöhnlich in einem der Gemüsegärten auf Beutezug, aber sie rührte sich nicht von der Stelle. Jemanden lang und gründlich anzusehen bereitete ihr Vergnügen, es war fast so beruhigend wie Zielen und Schießen. Früher hatte sie von anderen etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf gebraucht, und dies war das erste Mal, dass jemand sie brauchte. Dieser Mann war zu ihr gekommen, und sie hatte ihm zu essen gegeben. Ihr gefiel die Vorstellung, dass er sie dafür bezahlte. Außer den fünf Dollar, die er ihr gegeben hatte, besaß sie nur die Geldanweisung ihrer Mutter. Deren Gültigkeit war zwar zeitlich nicht begrenzt, aber das Papier begann am Rand schon auszufransen.
    Sie wickelte die Marlin zum Schutz gegen den Tau in die Plane, und es war, als würde sie die Büchse zu Bett bringen. Später am Abend wankte der Indianer zu seinem Auto, pinkelte dahinter auf den Boden und kroch zum Schlafen ins Wageninnere. Margo legte die Blechkiste mit der Asche zwischen sich und das Feuer und spitzte die Ohren. Einige Nächte zuvor hatte sie einen Streifenkauz gehört. Leise rief sie immer wieder »Huhu, wer ruft mir zu?« in die Stille, erhielt aber keine Antwort.
    Am nächsten Morgen bezahlte ihr der Indianer vier Dollar für ein Frühstück aus Tomaten, winzigen Flussmuscheln, die sie in einer Pfanne des Indianers briet, und zwei Eiern, die sie den Hausenten abgeluchst hatte. Nachdem sie die Pappteller verbrannt hatten, verkündete er, er wolle jetzt nach Süden fahren und sich den Kalamazoo ansehen, bevor er nach Kalifornien zurückkehrte.
    Margo hörte Gänseschnattern, und als sie aufblickte, sah sie eine Gänseschar hoch oben in V-Formation über den Fluss fliegen. Beim Anblick der Zugvögel, die so schwerelos über den Himmel zogen, sehnte

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