Studio 6
einander und schluchzten ein wenig.
»Nun gut, dann wollen wir mal nicht länger stören«, sagte Annika und wandte sich zum Gehen.
»Draußen sind noch mehr flennende Jugendliche«, meinte Pettersson.
Annika zögerte.
»Okay«, sagte sie. »Wir fragen sie, ob sie auf ein Foto wollen.«
Das wollten sie. Die Mädchen weinten, dass die Tränen nur so flossen, die Kerze flackerte, das Bild von Josefine schwebte über ihnen, grobkörnig vergrößert. Pettersson fotografierte die Gedichte und Zeichnungen der Mädchen, und während er knipste, stieg der Geräuschpegel noch weiter an. Die Jugendlichen waren auf die Gegenwart des Journalisten aufmerksam geworden, und ihre Hysterie wurde immer größer.
»He, wir wollen auch mit drauf«, riefen zwei Jungen mit Billardqueues in den Händen.
»Ich glaube, wir sollten jetzt abhauen«, flüsterte Annika.
»Wieso denn?«, fragte Pettersson erstaunt.
»Wir fahren«, wisperte Annika. »Sofort.«
Sie ging, um Martin Larsson-Berg zu suchen, während der Fotograf widerwillig seine Sachen zusammenpackte.
Sie bedankten sich bei dem stellvertretenden Rektor und verließen dann das Gebäude.
»Warum haben Sie es denn so eilig?«, fragte Pettersson ärgerlich auf dem Weg zum Auto. Er lief zwei Meter hinter Annika, und die Kameratasche schlug ihm gegen die Hüfte. Annika antwortete, ohne sich umzudrehen.
»Das ist nicht ganz koscher«, sagte sie. »Die Stimmung kann jeden Moment umkippen.«
Sie setzte sich ins Auto und drehte das Radio auf.
Schweigend fuhren sie nach Stockholm zurück.
Annika hatte gerade ihre Tasche auf den Böden fallen lassen, als sie den Mann durch die Redaktion kommen sah. Er war groß und blond, und das Licht von den Fenstern der Sportredaktion fiel auf ihn. Sie folgte ihm neugierig mit dem Blick. Der Mann blieb alle paar Meter stehen, schüttelte jemandem die Hand und grüßte. Erst als er am Newsdesk stand, bemerkte sie, dass neben ihm der Chefredakteur ging. Der kleine, hagere Intellektuelle war neben dem Mann kaum zu sehen.
»Ja, wenn ich mal um Ihre Aufmerksamkeit bitten dürfte«, sagte der Chefredakteur mit seiner nasalen Stimme am Newsdesk.
Spiken telefonierte mit den Füßen auf dem Tisch und sah nicht einmal auf. Bild-Pelle warf dem Mann einen schnellen Blick aus den Augenwinkeln zu und hackte dann weiter auf seinem Computer herum. Ein paar der übrigen Mitarbeiter waren aufgestanden und schauten skeptisch zu dem Mann hinüber. Niemand hatte darum gebeten, einen Fernsehpromi als Chef zu bekommen.
»Wenn Sie mir bitte zuhören würden«, bat der Chefredakteur.
Die Mienen der Mitarbeiter waren wie versteinert.
Spiken ignorierte das alles völlig. Annika rührte sich nicht.
Plötzlich machte der blonde Mann einen großen Satz auf den Newsdesk. Er erhob sich auf Spikens Schreibtisch zu voller Länge, ging ein wenig zwischen Telefonen und Kaffeetassen hin und her und sah sich um. Dann stützte er die Hände in die Seiten und ließ den Blick über die Redaktion schweifen. Seine Gestalt war immer noch in Licht getaucht, und Annika bemerkte, dass sie aufgestanden war und sich der Gruppe näherte. Spiken hatte plötzlich die Füße des anderen auf Augenhöhe, schaute an der Person hinauf, sagte: »I’ll call you back« und legte auf. Bild-Pelle ließ den Mac stehen und trat an den Tisch.
Der Geräuschpegel sank, man hörte nur noch ein leises Murmeln, und die Mitarbeiter versammelten sich langsam um die Mitte der Redaktion.
»Ich heiße Anders Schyman«, sagte der Mann. »Zurzeit leite ich eine Redaktion für kritischen Journalismus beim Schwedischen Fernsehen. Ab Mittwoch, dem 1. August, werde ich Ihr neuer Ressortchef sein.«
Er hielt inne, und im Raum war es nun totenstill. Seine Stimme war so tief und tragend wie die Sprecherstimmen in Dokumentarfilmen. Annika starrte ihn fasziniert an.
Der Mann machte einen Schritt und blickte auf einen anderen Teil der Redaktion.
»Ich verstehe nichts von Ihrem Job«, sagte er. »Davon verstehen Sie umso mehr. Ich werde Ihnen nicht beibringen, was Sie tun sollen. Das wissen Sie selbst am allerbesten.«
Wieder Schweigen, Annika hörte die Geräusche der Nacht, die Klimaanlage und den Verkehr auf der Straße.
»Was ich tun werde«, fuhr der Mann fort, und Annika hatte das Gefühl, er würde sie direkt anschauen, »was ich tun werde, ist, den Weg zu ebnen. Ich werde die Lokomotive nicht selber fahren. Ich werde den Boden planieren und den Weg der Schienen planen. Legen kann ich sie allerdings nicht
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