Stürmisches Paradies
vermisste ihren Vater.
Sie schloss die Augen vor den Wellenbewegungen des Meeres und sah Jacob in der Werkstatt, die dicke Schürze über den Kleidern, sein Gesicht verschwitzt und die braunen Augen warm wie Kaffee, wenn er sie betrachtete. Seine Stimme und seine Berührung waren immer behutsam, wenn er den Arm um ihre Schultern legte, um sie zu fragen, wie ihr Tag gewesen war und wenn er sie bei der Arbeit anleitete, niemals urteilend und niemals ungeduldig. Seine Liebe hatte die Werkstatt ebenso mit Wärme erfüllt, wie der Schmiedeofen es tat.
Er war so ein guter Mann, so ein wunderbarer Vater gewesen. Sie fragte sich, weshalb Blake ihn so sehr hasste. Vincent hatte recht – sie sollte ihn wirklich fragen. Alicia riss die Augen auf.
Der Brief. Blake hatte den Brief.
Wenn sie ihn finden konnte, dann würde sie vielleicht erfahren, weshalb Blake solch negative Gefühle für ihren Vater empfand. Sie war doch in Blakes privater Kabine, und falls der Brief irgendwo war, dann wohl innerhalb dieser vier Wände. Aufgeregt machte sich Alicia auf die Suche.
Es war überraschend und enttäuschend einfach. Beinahe hatte sie gehofft, es würde länger dauern, den Brief zu finden, denn dann wäre die Zeit schneller verstrichen, die langen Stunden, die sie alleine und eingesperrt verbringen musste. Doch leider stellte sich heraus, dass die Sonne noch hoch am Himmel stand und der Brief an dem Platz war, wo sie als Erstes nachgesehen hatte. In der Ecke neben dem Tisch war eine Reihe breiter Regale, wo Blake seine Karten und Logbücher aufbewahrte. Darunter gab es zwei schmale Schubladen nebeneinander. Als sie die rechte Schublade öffnete, starrte der Brief sie daraus an.
Mit klopfendem Herzen ließ Alicia die Schublade offen stehen und huschte zur Leiter. Sie kletterte so weit nach oben, wie sie konnte, bevor ihr Kopf die Luke berührte. Dann spähte sie hinaus. Sie konnte Stiefel erkennen, weiter nichts. Sie erkannte Blakes Stiefel wieder, ebenso wie die von Vincent. Da keiner von beiden in ihre Richtung ging, rannte sie zurück zur Schublade und nahm den Umschlag heraus. Als sie ihn umdrehte, rutschte ihr das Herz in die Hose.
Blake hatte ihn nicht geöffnet. Das rote Siegel war unversehrt. Warum zum Teufel hatte er es nicht geöffnet? Sie atmete heftig ein. Ihr Vater hatte sich die Zeit genommen, diesem Mann einen Brief zu schreiben, und Blake machte sich nicht einmal die Mühe, ihn zu lesen ?
Den Brief fest in der rechten Hand rannte Alicia die Stufen hinauf und warf die Luke auf. Sie sah, wie Blake sich nach ihr umdrehte, sah seinen fragenden Blick zu Wut erstarren, als ihm klar wurde, dass sie ihm nicht gehorchte, weil sie am helllichten Tag an Deck kam. Sie wusste, da waren noch andere Männer, konnte ihre fragenden Seitenblicke spüren, aber ihre Augen waren nur auf Blake fixiert.
»Was machst du an Deck?«, wollte er wissen und trat etwas vom Ruder weg.
Sie ignorierte ihn und klatschte ihm den Briefumschlag vor die Brust.
»Du hast ihn nicht einmal gelesen ?«
Aus den beiden obersten Knöpfen seines Hemdes kroch ihm die Zornesröte den Hals hinauf und überzog sein Gesicht. Alicia wusste trotz der unerbittlichen prallen Sonne, dass dies nichts mit der Hitze zu tun hatte. An Deck war es bedrohlich still. Man hörte nur das Knarzen der Segel und Schiffstaue und das Ächzen des Holzes.
»Wo hast du den gefunden?« Er riss ihr den Brief aus der Hand.
»Warum hast du ihn nicht gelesen?«, konterte sie.
»Das geht dich nichts an«, knurrte er zwischen den Zähnen hervor.
Sie starrte ihn an. »Er wurde von meinem Vater geschrieben! Er hat mich gebeten, ihn dir zu geben. Es geht mich sehr wohl etwas an!«
Blake knurrte wütend. Dann brüllte er einen Befehl über seine Schulter, packte Alicia am Handgelenk und schmiss sie beinahe die Leiter hinab in seine Kabine. Seine Stiefel hämmerten über die Sprossen. Die Luke schlug donnernd zu. Das Geräusch klingelte ihr immer noch in den Ohren, als sie herumwirbelte, um ihm entgegenzutreten.
»Warum hast du ihn nicht geöffnet?«
»Weil es mir verdammt nochmal egal ist, was darin steht!«
»Warum nicht?«
Er kniff die Augenbrauen zusammen. »Ich habe dir erlaubt, an Bord zu bleiben. Ich habe meinen Kurs geändert, dich in meine Kabine gelassen, und du dankst es mir, indem du meine Sachen durchwühlst?«
»Ich versuche nur, ein paar Antworten zu bekommen, Blake. Nichts hiervon ergibt Sinn. Warum hat mich mein Vater zu dir geschickt? Warum hasst du ihn so
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