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Stumme Angst (German Edition)

Stumme Angst (German Edition)

Titel: Stumme Angst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina Stein
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was finden.
    Er steht an das Fenster gelehnt, still, und will sie endlich loswerden. All diese Gedanken. An die Arbeit, an Anna, warum kann sein Leben nicht sein, wie es war. Die Häuserfront gegenüber: Gerade mal zehn Meter ist sie von ihm entfernt, 20 Armlängen dürften das sein, vielleicht weniger. Das Wohnzimmer der beiden Alten zum Greifen nahe. Jetzt scheint es, als würde all das auf ihn zufallen, die beiden Alten aus dem Fenster herauspurzeln, verschwommene Körper, die durch die Luft segeln. Hat man eben davon, wenn man am Abend zuvor säuft. Er schafft es bis zum Klo, kotzt die Schmerztabletten wieder raus. Kleine weiße Klumpen, vermischt mit Galle. Sein Zittern, als es vorbei ist, er legt den Kopf ab, die Fliesen sind kühl. Er bleibt liegen und hält die Augen geschlossen, das Zittern, die Woge der Übelkeit wird vorbeigehen. Der Rest bleibt.
    Die Gedanken an seine Schwester. Die er nicht erreichen kann in diesem verdammten Australien, nicht mal ihre Mails will sie regelmäßig lesen. Seine Eltern, die er nicht erreichen will. Denen er nicht gestehen will: Ich brauch euch jetzt mal. Will er doch seit Jahren endlich auf eigenen Beinen stehen. Will er seinem Vater sagen: Es geht auch ohne deine besserwisserischen Ratschläge. Was er in dieser Situation wohl zu sagen wüsste? Wahrscheinlich etwas wie: »Was ist denn das für ein Mädchen, die mit einem Mal verschwindet? Wie alt ist die gleich? Achtzehn? Ohnehin zu jung für dich. Such dir eine in deiner Klasse, eine, die es zu etwas bringt.«
    Der Hund kommt und legt den Kopf auf seinen Bauch. Wären wenigstens seine Freunde in der Nähe. Doch die leben inzwischen in anderen Städten, bauen sich nach dem Studium was Neues auf, genau wie er. Aber wie alles aus den Fugen geraten kann. Wie die Freundin auf einmal verschwinden kann. Man seine Eltern nicht mehr anrufen möchte, mit der eigenen Schwester nicht mehr sprechen kann.
    Was bleibt, ist der Hund. Dessen leere Augenhöhle traurig aussieht. Als hätte das fehlende Auge all das schon gesehen und hinter sich gelassen.
    Er erkennt Torben durch die Schilderung von Rebecca: »Ausgefranstes blondes Haar, großer, kräftiger Kerl.«
    Liam schaut in das Café und findet: Stimmt nicht ganz. Das, was dort auf ihn wartet, ist nicht groß, sondern ein Berg von Mensch. Der durch eine Zeitschrift blättert, als würde ihn ihr Inhalt nicht interessieren. Mag sein, dass es an diesem riesigen Rücken liegt. Der sich rund macht, zwischen Stuhl und Tischplatte. Doch irgendwie wirkt er in sich zusammengesunken.
    Ihre Blicke treffen sich, als er den Raum betritt, Torben steht auf. Wischt sich die Hände an der Jeans ab, bevor er ihm die Hand reicht.
    »Danke, dass du gekommen bist«, meint Liam.
    Ein richtiger Obelix, findet er. Neben dem fällt er selbst ab, ist ein lächerliches Würstchen wie Asterix.
    Der Hund schafft es, zwischen ihnen keine Distanz aufkommen zu lassen.
    »Hey«, meint Torben. »Ich hatte auch mal einen Basset. Was ist denn mit seinem Auge passiert?«
    Liam erzählt die übliche Geschichte: Wald – Tierheim. Und spürt selbst, dass er nur Phrasen von sich gibt. Dass er Torben nur Gesprächsbrocken hinwirft. Aber sein Gegenüber scheint zu verstehen.
    »Bist ziemlich fertig, oder?«
    Liam fährt sich durch die Haare. Weiß nicht, welche Geste sonst zu dieser Bemerkung passen soll.
    Er mag Menschen, die direkt sind. Dennoch würde er am liebsten seine Sonnenbrille aufsetzen, ahnt aber, wie arrogant das wirken würde.
    »Die Polizei hat sich inzwischen bei mir gemeldet«, redet Torben weiter. »Möchte anscheinend mit möglichst vielen Leuten aus Annas Bekanntenkreis reden. Dabei hab ich sie ein halbes Jahr nicht gesehen.«
    »Hattest du gar keinen Kontakt zu ihr?«
    Torben zuckt mit den Schultern, ein wenig zu aufgesetzt, findet Liam. Als würde er diesen Gedanken möglichst schnell abschütteln wollen.
    »Vielleicht ein paar Mails.«
    Liam wundert sich über die Beiläufigkeit dieser Bemerkung. Aber warum sollte Torben seine Gefühle nicht verbergen dürfen? Würde er selbst auch machen, falls da noch welche wären. Und was ist schon ein halbes Jahr? Wenn man wirklich verliebt gewesen ist. Er beschließt, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
    »Du studierst Archäologie, oder?«
    Torben nickt und öffnet seinen Zopf, um die Haare im Nacken neu zu binden.
    »Und du?«
    Langsam nähern sie sich einander an. Zwei Fremde, denen dieser Kontakt seltsam vorkommt. Die über irgendwas reden, um die

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