Stumme Angst (German Edition)
richtigen Worte zu finden.
Die Kopfschmerzen pochen noch immer gegen seine Schläfen. Liam bestellt eine Flasche Mineralwasser, fühlt sich ausgetrocknet. Aber immerhin konnte er die letzten zwei Schmerztabletten bei sich behalten.
Seine wichtigste Frage: Ob Torben von einem Ereignis weiß, einer Begegnung, von der Anna ihm erzählt hat. Die irgendwie mit ihrem Verschwinden in Verbindung stehen könnte.
Torben denkt nach, bevor er antwortet.
»Nein. Aber Anna war ja nie wirklich gesprächig. Erzählte nicht viel aus ihrem Leben, meine ich.«
Er betrachtet Torbens Hände. Riesig sehen sie aus: Zwei Fleischbrocken, die auf dem Tisch liegen. Er versucht, sie sich auf Annas Haut vorzustellen. Ihre Brüste würden in ihnen verschwinden. Anders als bei ihm, seinen schmalen Asterixhänden.
»Weißt du, was mir die Polizei sagt?«, beginnt Liam. »Dass sie einfach nur weggefahren sein könnte. So ’ne Art Spritztour übers Wochenende. So wäre das bei den meisten Leuten, die verschwinden. 80 % würden nach einer Woche von ganz alleine wieder auftauchen.«
Torben starrt an ihm vorbei. Nimmt sich den Keks, der neben der Tasse liegt, und tunkt ihn hinein. Er sieht lächerlich klein aus in seiner Hand. Und zerbröselt sogleich im Kaffee, zermatschte Krümel treiben darin umher. Torben fischt sie mit dem Löffel hinaus.
»Ich hab mich schon gewundert über Anna«, gibt er zu. »Die Trennung, meine ich. Die kam ziemlich unvermittelt.«
Liam bleibt still, lässt den Satz im Raum stehen. Blickt durch das offene Fenster auf die Straße: Die Sonne fällt beinahe senkrecht auf das Kopfsteinpflaster. Fußgänger stehlen sich eng an den Hauswänden entlang, versuchen, das letzte bisschen Schatten für sich zu nutzen.
»Was ich damit meine«, fährt Torben fort, »ist, dass es vorher eigentlich keine richtigen Anzeichen für eine Trennung gab. Ich war ziemlich vor den Kopf gestoßen.«
Liam versteht. Er zieht eine Zigarette aus der Schachtel – seine erste an diesem Tag. Er weiß jetzt schon, dass sie nicht schmecken wird.
Natürlich sagt er nicht: Bei uns ist das anders. Denn vielleicht ist es nicht mal so. Vielleicht ist das mit Anna bloß Wunschdenken und er weiß gar nichts.
Er schätzt, dass Torben so ehrlich ist. Dieser Brocken von Mensch. Dennoch – er überlegt, ob er ihn bitten soll, diesen Aspekt der Polizei gegenüber nicht zu erwähnen. Das wäre ein gefundenes Fressen für sie, oder nicht? Ein Grund, die Hände in den Schoß zu legen. Das Mädel mit den vielen Kerlen. Die alle paar Monate was Neues ausprobiert. Die sich schon mal für ein paar Tage davonmacht, ohne jemandem Bescheid zu sagen. Denn so was kommt vor. Bei scheiß 80 %.
Liam drückt die Zigarette aus.
»Ich hab noch ’ne Frage«, beginnt er. »Hast du was dagegen, wenn ich ein Bild von dir mache?«
»Wozu denn das?«
Wie schnell eine Stimmung zu kippen vermag. Doch ein wenig muss er Torben recht geben – wie hört sich das eigentlich an.
»Für Anna.«
Torben hebt seine Schulterberge.
»Was soll’s. Wenn dein Hund mit der Augenklappe mit aufs Bild darf.«
Er hebt Kapitän zu sich herauf, das Viech sieht winzig aus in seiner Armbeuge.
Torben bleibt sitzen, als er geht. Liam wirft einen Blick zurück und sieht noch, wie er wieder nach der Zeitschrift greift. In sich zusammensinkt, ein Fleischklops, über den Tisch gebeugt. Fast so, als hätte das Gespräch gar nicht stattgefunden. Als hätte jemand die Zeit angehalten.
Und wenn er etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hat? Liam würde es nie erfahren. Genauso wenig wie die Polizei. Torben wirkt wie einer, der normal ist. Ein Obelix, der zu seinen Gefühlen steht. Einer, der Anna mag. Der keiner Fliege etwas zuleide tun könnte. Trotz seiner riesigen Pranken.
Die Liste. Zu Hause angekommen, ist sie das Erste, wonach er greift: Andreas, Erik, Björn, Natan, Elias.
Das ist die Reihenfolge.
Der erste Name: Andreas. Laut Rebecca der Spießer, mit dem Pullover über die Schultern gelegt.
Marie hat keine Telefonnummer angegeben, bloß eine Mail-Adresse. Jura-Student steht da noch, Alter 20, wohnhaft hier in der Stadt.
Was schreibt man so einem Kerl, dem man eigentlich nicht begegnen will?
Hallo Andreas,
ich habe deinen Kontakt von Marie Willenberg, einer guten Freundin von Anna. Sie erzählte mir, dass du einige Zeit mit Anna zusammen gewesen bist, daher melde ich mich. Anna ist seit fast einer Woche verschwunden. Inzwischen suchen nicht nur die Polizei, sondern auch ihre Freunde nach
Weitere Kostenlose Bücher