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Stumme Zeugen

Titel: Stumme Zeugen Kostenlos Bücher Online Lesen
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kreidebleichen Gesichtern in der Tür zum Wohnzimmer. Sie hatten den Wortwechsel mitgehört.
    »Ja«, antwortete Annie. »Wir haben gedacht, er würde ins Haus einbrechen und uns finden.«
    Jess drehte sich um und zeigte mit einem zitternden Finger auf William. »Es hätte ein Unglück passieren können, weil du die Vorhänge auseinandergezogen hast. Wenn ich dir sage, du sollst nicht aus dem Fenster gucken, meine ich es auch!«
    William stand reglos da, seine Augen wurden feucht.
    »Es tut mir leid«, stammelte er mit bebenden Lippen.
    Jess ging durch die Küche und zog die beiden an sich. »Schon gut. Ich bin einfach glücklich, dass es euch gut geht. Ist schon okay, Willie.«

    »William«, korrigierte der Junge. Seine Stimme klang gedämpft, weil er sich fest an Jess presste.
    »Wird er zurückkommen?«, fragte Annie.
    Jess ließ die beiden los und bückte sich, damit er ihnen in die Augen blicken konnte. »Ich denke schon.«
    »Was werden Sie tun?«
    »Ich weiß es noch nicht. Ich muss darüber nachdenken.«
    »Sie könnten mir zeigen, wie man mit den Gewehren in dem Schrank umgeht«, sagte William. »Mir und Annie.«
    Jess blickte ihn an. Er wollte ihn zurechtweisen, überlegte es sich aber anders. »Jetzt gibt’s erst mal was zu essen.«

Sonntag, 16.03 Uhr
    Jim Hearne saß mit der aufgeschlagenen Zeitung auf den Oberschenkeln in einem bequemen Sessel mit verstellbarer Rückenlehne. Im Fernsehen wurde ein Spiel der Seattle Mariners übertragen, aber er wusste nicht, welcher Durchgang lief, wie der Spielstand lautete oder wie der Gegner hieß. Zwischen ihm und dem Fernseher schien es eine imaginäre Mauer zu geben, die er selbst erfunden hatte und die sein Blick nicht durchdringen konnte. Eine Mauer, die seit dem Morgen, als sie entstanden war, immer dicker wurde.
    Sie kam ihm wie eine Barriere zwischen ihm und allem anderen vor, und sie war immer höher geworden, seit er an diesem Morgen mit Laura die Kirche besucht hatte. Es hatte weder etwas mit der Predigt des Geistlichen zu tun noch mit der Umgebung. Sondern damit, dass sein Kopf zum ersten
Mal seit zweieinhalb Tagen völlig leer war, was teilweise auch an seinem schweren Kater lag. Die Leere füllte sich durch Gedanken an das Gespräch mit Eduardo Villatoro und an das, was er in der Zeitung über die Suche nach den Taylor-Kindern gelesen hatte. Durch Gedanken über die Excops aus L. A., die der Task Force des Sheriffs vorstanden. Und durch Gedanken über seine eigene Rolle in dieser Geschichte, über seine Verantwortung.
    Hearne blickte sich in dem Raum um, als sähe er alles zum ersten Mal. Es war ein imposantes Wohnzimmer mit hoher Decke, einem Schieferboden mit wertvollen Teppichen darauf und hochmoderner Unterhaltungselektronik, die so kompliziert war, dass er keine Ahnung hatte, was man damit alles anstellen konnte. Durch das riesige Panoramafenster sah man einen zu dem von Bäumen gesäumten See abfallenden Rasen, und am Ufer stand mit der Unterseite nach oben sein hölzernes Fischerboot. Aus der Küche hörte er Laura, die beim Kochen mit ihrer Mutter telefonierte, die in einer Anlage für betreutes Wohnen in Spokane lebte. Der Geruch des Sonntagsessens stieg ihm in die Nase. Es gab gebratenes Hähnchenfleisch, sein Lieblingsgericht, zubereitet auf die traditionelle Art des tiefen Südens. Das in Stücke geschnittene Fleisch wurde in Buttermilch eingelegt und auf besondere Weise gewürzt. Er wünschte, sich mehr darauf freuen zu können, doch das Sonntagsessen war jetzt das Letzte, das ihn beschäftigte.
    Er fühlte sich in seinem eigenen Haus wie eine Art Hochstapler. Hier sollte ein richtiger Geschäftsmann leben, nicht ich, dachte er. Jemand, der im Gegensatz zu ihm keinen Gewissenskonflikt empfand angesichts dessen, was in Kootenai
Bay und Umgebung geschah. Jemand, der seine Rolle in diesem Spiel rechtfertigen konnte. Trotz des Hauses am See, des Grundstücks und seines gesellschaftlichen Status fühlte er sich wie ein erbärmlich armer Rodeoreiter, der einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte. Er musste aufhören, mit seinem Schicksal zu hadern, sondern etwas tun.
    Als er aufstand und seine Glieder reckte, hörte er in seinem Rücken ein Knacken. Wenn er zu lange untätig im Sessel saß, wie heute, meldeten sich die alten Verletzungen zurück, und es bedurfte einiger schmerzhafter Dehnübungen, bis er sich wieder entspannter fühlte. Es gab drei Telefone im Haus, in der Küche, im Schlafzimmer und in seinem Arbeitszimmer. Er klemmte sich

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