Stumme Zeugen
der er Villatoro bat, sofort nach seiner Rückkehr zurückzurufen.
Wer sonst konnte ihm helfen? Buddy?
Er suchte im Telefonbuch nach der Nummer des Deputys und rief an. Die Leitung war besetzt. Wahrscheinlich schläft er und hat den Hörer danebengelegt, dachte Jess.
Er ging unruhig in der Küche auf und ab, spülte, trocknete ab. Dann schaute er abwechselnd auf die Uhr und das Telefon, das nicht klingelte.
Vielleicht würde Sheriff Carey ihm glauben, wenn er eine Gelegenheit fand, mit ihm zu reden, ohne dass die Excops in der Nähe waren. Vielleicht. Er musste sein Glück versuchen und konnte es nicht riskieren, bis zum nächsten Morgen zu warten. Eventuell standen die Excops dann schon vor seiner Tür, oder das FBI hatte Kontakt zu ihnen aufgenommen. Er musste noch heute Abend handeln.
Als er die Kinder auf dem Sofa betrachtete, dachte er: Enttäusch sie nicht. Du hast das Zerbrechen deiner eigenen Familie miterleben müssen. Lass nicht zu, dass es auch bei ihnen so weit kommt.
Sie mussten zu ihrer Mutter zurück, und die musste wissen, dass es ihnen gut ging. Die Kinder zählten darauf, dass er sie beschützte. Er würde sein Bestes geben, ungeachtet der möglichen Konsequenzen. Er hatte nichts zu verlieren.
»Ich muss für eine Weile weg«, sagte er, nachdem er den Ton des Fernsehers abgestellt hatte, damit die beiden auch zuhörten. »Ich muss noch mal in die Stadt.«
»Heute Abend?«, fragte Annie. »Sie lassen uns allein?«
Er nickte. »Es muss sein.«
»Was ist, wenn der Mann zurückkommt?«
Jess antwortete nicht sofort. »Ich zeig dir, wie man mit einer Schrotflinte umgeht, Annie«, sagte er schließlich. »Du musst wissen, was du zu tun hast, wenn jemand außer mir dieses Haus betritt.«
Annie nickte. William blickte sie neidisch an.
Jess öffnete den Waffenschrank und zog eine Schrotflinte heraus. »Damit habe ich meinem Sohn das Jagen beigebracht«, sagte er. »Vergiss nicht, dass eine Waffe kein Spielzeug ist. Komm her, dann zeig ich dir, wie sie funktioniert …«
Bevor er das Haus verließ, ging Jess noch einmal zu dem Waffenschrank zurück. Er ließ den Blick über die Gewehre gleiten und ihre Vorzüge und Nachteile Revue passieren. Den Gedanken an ein Jagdgewehr mit Zielfernrohr ließ er schnell fallen. Auf große Entfernung war so eine Waffe natürlich
gut, für nahe Distanzen oder bewegliche Ziele eignete sie sich nicht. Außerdem dauerte das Nachladen zu lange, und er würde maximal drei oder vier Patronen zur Verfügung haben. Eine Schrotflinte hatte auf kurze Entfernung verheerende Wirkung, und man musste nicht so genau zielen - genau das Richtige für Annie. Aber jenseits einer Distanz von fünfzig Metern richtete man damit keinen großen Schaden mehr an. Er brauchte eine Waffe, auf die bei jeder Entfernung Verlass war.
Er zog die kurze 25-35-Winchester aus dem Schrank, einen Sattelkarabiner, der seinem Großvater gehört hatte und mit bis zu sieben Patronen geladen werden konnte. Es war eine unkomplizierte Waffe, mit der er als Junge sein erstes Reh erlegt hatte. Später hatte er sie für J. J. aufbewahrt, der jedoch nie Interesse zeigte. Als er das Gewehr jetzt in den Händen wog, kam es ihm wie ein alter Freund vor, wie eine Verbindung zur Vergangenheit.
Die Kinder schauten ihm zu, als er die Waffe mit Patronen lud. »Denk daran, was ich eben gesagt habe, Annie. Wenn jemand das Haus betritt, zielst du auf die breiteste Stelle seines Körpers und drückst ab. Vergiss nicht, die Waffe vorher zu entsichern. Unabhängig davon, ob du triffst, ich will, dass ihr sofort nach dem Schuss wegrennt. Wo wollt ihr euch verstecken? Was schlägst du vor, Annie?«
»Bei dem alten Pferch hinter dem Haus. Da gibt’s viele Bäume.«
»Okay. Alles klar, William?«
Der Junge nickte. Jess hatte den Eindruck, als wäre es fast eine Enttäuschung für ihn, wenn Gonzales nicht zurückkam.
»Okay«, sagte er. »Türen und Fenster bleiben verschlossen, die Vorhänge zugezogen. Auch wenn jemand kommt, schaut nicht aus dem Fenster.«
Annie und William nickten.
Jess zwinkerte ihnen zu. »Es wird nicht lange dauern.«
Bis diese Geschichte ausgestanden war, würde er die Winchester immer dabeihaben.
Sonntag, 17.30 Uhr
»Was zum Teufel hast du vor?«, fragte Swann aggressiv.
Monica packte, warf Kleidungsstücke in einen Koffer auf ihrem Bett. Kleidungsstücke für sich, Annie und William. Die Kinder mussten sich bestimmt umziehen. Sie war zusammengezuckt, denn sie hatte nicht bemerkt,
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