Stumme Zeugen
besser wusste, und das ist genauso schlimm. Ich habe etwas geschehen lassen, ohne einzugreifen, ohne die richtigen Fragen zu stellen. Getan habe ich es, weil mir klar war, dass das Geschäft blühen würde, wenn ich wegschaue, und es hat sich prächtig entwickelt. Aber ich wusste es besser. Mir war klar, dass etwas nicht stimmen konnte.«
Sie schüttelte langsam den Kopf. Würde sie ihn unter Druck setzen, um Einzelheiten zu erfahren?
»So was passt gar nicht zu dir, Jim.« Das schmerzte mehr als irgendetwas, das sie sonst hätte sagen können.
Er ließ den Kopf hängen, konnte ihr nicht in die Augen schauen. »Laura, ich muss versuchen, diese Sache zu bereinigen, auch wenn ich weiß, dass es mir möglicherweise nicht gelingt. Mein Job und mein Ruf stehen auf dem Spiel.«
Sie seufzte. »Dir war unser gesellschaftlicher Status immer sehr viel wichtiger als mir. Ich wäre in unserem alten Haus genauso glücklich gewesen, und von mir aus hätte in unserer Gegend alles mehr oder weniger so bleiben können wie früher, als wir jung waren. Mir ist bewusst, dass ich die Uhr nicht zurückstellen kann, so wenig wie du. Aber mir wäre es lieber, wenn wir nicht mitverantwortlich dafür wären, dass alles immer unübersichtlicher wird und jeder eingeladen wird, zu uns zu ziehen. Ich bin nicht sicher, ob diese Entwicklung gut ist. Wenn man ein Sonntagsessen kochen will, ist es egal, wie groß das Haus ist.«
Er hob langsam den Kopf. Sie war erstaunlich, und er liebte sie.
»Tu, was du tun musst, um die Sache zu bereinigen«, sagte sie.
»Dann bin ich nicht zum Essen hier.«
»Das hält sich, bis du zurückkommst.«
Sonntag, 17.15 Uhr
Während Annie und William aßen, blätterte Jess im Telefonbuch und suchte die Nummer des FBI-Büros in Boise heraus. Er blickte auf die Uhr. Sonntag, Viertel nach fünf. Ob überhaupt jemand dort war? Er wandte den Kindern den Rücken zu, wählte und hörte einen Anrufbeantworter:
»Sie sind mit dem Federal Bureau of Investigation in Boise verbunden. Unser Büro ist montags bis freitags von acht bis fünf besetzt. Falls Sie in einer dringenden Angelegenheit
anrufen, legen sie bitte auf und wählen die Notrufnummer 911, damit Ihnen die Behörden vor Ort weiterhelfen können. Sollte es nicht dringend sein, sprechen Sie bitte eine Nachricht auf unseren Anrufbeantworter. Ein FBI-Beamter wird so schnell wie möglich zurückrufen.«
Als er den Piepton hörte, zögerte er einen Augenblick. Dann nannte er leise seinen Namen und seine Telefonnummer und sagte, er wisse etwas über die verschwundenen Taylor-Kinder.
Als er auflegte, war er sich nicht mehr sicher, ob seine Entscheidung richtig gewesen war. Würde der FBI-Beamte sofort ihn anrufen oder vorab zum Sheriff oder den Excops Kontakt aufnehmen? Wenn das passierte, konnte alles übel enden. Er starrte auf den Hörer und wünschte, er könnte die auf dem Anrufbeantworter hinterlassene Nachricht irgendwie löschen. Er hätte sofort auflegen und bis zum nächsten Tag warten sollen. Dann hätte er Gelegenheit gehabt, mit einem menschlichen Wesen zu reden. Solche überhasteten Entscheidungen passten nicht zu ihm. Aber er musste etwas tun. Der Vorfall mit Gonzales hatte ihn verunsichert. Jetzt verdächtigten sie ihn, und er war sicher, dass Gonzales mit Begleitung zurückkommen würde.
Seit seiner Rückkehr schienen sich Annie und William richtig wohlzufühlen. Sie saßen im Wohnzimmer und zappten durch die Fernsehkanäle. Jess schaute sie aus der Tür zur Küche an und wünschte, er könnte ebenfalls so sorglos sein. Annie lächelte ihn kurz an und wandte sich wieder dem Fernseher zu.
Irgendetwas hat sich geändert, dachte er. Weil sie den
Wortwechsel zwischen ihm und Gonzales mitgehört hatten, vertrauten sie ihm nun völlig. Sie glaubten, er könne sie beschützen. Er selbst war sich da nicht so sicher. Er musste sich einen Plan zurechtlegen und brauchte Hilfe, wusste aber nicht, an wen er sich wenden sollte.
Er musste an Villatoro denken. Im Panhandle hatte er den Eindruck gewonnen, dass der ehemalige Detective noch Beziehungen zu Mitarbeitern von Strafverfolgungsbehörden hatte. Möglicherweise hatte er sogar ihre Telefonnummern. Vielleicht konnte er den Kontakt zu einem entgegenkommenden FBI-Beamten vermitteln, der auf einen Anruf beim Sheriff verzichten würde? Jess zog die Karte aus der Tasche und rief in Villatoros Hotel an, erwischte aber wieder nur den Anrufbeantworter. Er fluchte innerlich und hinterließ eine Nachricht, in
Weitere Kostenlose Bücher