Stumme Zeugen
stand auf. »Sie müssen ihnen den Kopf zurechtrücken! Sagen Sie ihnen, dass Jess ein anständiger Mann und Fiona Pritzle verrückt ist. Und lassen Sie es auch die Reporter da draußen wissen, bevor sie diese haltlosen Anschuldigungen landesweit ausstrahlen. Sehen Sie, ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich vor vier Jahren in meiner Bank ein Konto eröffnet habe, das nie hätte eröffnet werden dürfen. Genau zu dem Zeitpunkt, als die Polizisten aus L. A. unsere Gegend als Ruhestandsparadies entdeckten. Damals habe ich einfach weggeschaut, ich gebe es zu. Ich hätte mehr Fragen stellen sollen, doch mich interessierte nur das Geschäft. Aber ich habe nicht gewollt, dass wir nicht mehr Herr im eigenen Haus sind, niemand will das. Es ist unsere Heimat, hier müssen wir das Sagen haben. Es ist an der Zeit, dass Sie die Dinge in die Hand nehmen. Deshalb haben die Leute sie gewählt. Sheriff?«
Hearne wurde bewusst, wie laut er sprach, was bei ihm nur selten vorkam. Aber es trug nicht dazu bei, den Sheriff wachzurütteln, sondern hatte den entgegengesetzten Effekt. Carey zog sich immer mehr in sich selbst zurück und sagte nichts.
Hearne blickte sich um. Die rothaarige Assistentin stand in der Tür, mit flatternden Augenlidern und offenem Mund.
»Ich habe laute Stimmen gehört, Sheriff«, sagte sie.
»Ist schon in Ordnung«, antwortete Carey so kraftlos, dass er Hearne leidtat. »Gehen Sie wieder an die Arbeit.«
Als sie verschwunden war, versuchte Hearne, seine Stimme ruhig klingen zu lassen. »Also haben Sie keine Ahnung, wer wo ist?«
Carey schüttelte den Kopf. »Aber Singer könnte tatsächlich im Krankenhaus sein.«
»Okay.« Hearne stand auf. »Bitte, nehmen Sie Kontakt zu Singer auf, und versichern Sie ihm, dass Jess Rawlins ein anständiger Mann ist. Und passen Sie auf, dass nichts von diesem Unsinn in die Medien gelangt. Das darf nicht passieren.«
Carey nickte mit ausdrucksloser Miene.
Hearne drehte sich um und ging zur Tür.
»Mr Hearne«, rief Carey ihm nach. »Ich übergebe die ganze Sache dem FBI. Angerufen habe ich bereits, morgen früh sind sie hier. Diese Geschichte wächst mir schon nach zwei Tagen über den Kopf.«
»Diese Entscheidung war vermutlich überfällig«, sagte Hearne. »Ich bin überrascht, dass Sie so lange gewartet haben. Trotzdem, ich schlage vor, dass Sie sich zusammenreißen. Sie sollten nach Hause fahren, unter die Dusche gehen und sich rasieren. Versuchen Sie, sich wie ein Profi zu benehmen.«
Carey schaute ihn geistesabwesend an. »Ich werde mich bemühen.«
Während er in Richtung Krankenhaus fuhr, versuchte Hearne, über sein Handy Jess Rawlins zu erreichen. Niemand nahm ab, und Jess hatte keinen Anrufbeantworter. Er wollte ihm sagen, was los war, und ihm von dem Verdacht berichten, der durch Fiona Pritzles Geschwätz in die Welt gekommen war. Schon bei dem Gedanken, jemand könnte Jess Rawlins für einen Kidnapper oder Kinderschänder halten, drehte sich ihm der Magen um.
Er wollte nachsehen, ob Singer tatsächlich bei Swann im Krankenhaus war. Er empfand das unwiderstehliche Bedürfnis, Singer zu sagen, was die Konten betreffe, spiele er nicht mehr mit, es sei an der Zeit, reinen Tisch zu machen. Ungeachtet dessen, was gerade passierte, und der heroischen Rolle, die Singer bei der Suche nach den Kindern spielte, sehnte er sich verzweifelt danach, die Beziehung zu ihm zu beenden. Es wäre der erste Schritt, um sich im Spiegel wieder in die Augen schauen zu können. Aber auch eine Einladung an den Vorstand der Bank, seine Urteilsfähigkeit in Frage zu stellen und darüber nachzudenken, ob er der richtige Mann für den Job des Direktors war.
Nachdem er hinter dem Krankenhaus geparkt hatte, ließ er den Motor laufen. Er rief Laura an, um ihr zu sagen, es werde später als gedacht. Während er darauf wartete, dass sie abnahm, blickte er auf das blinkende Neonschild mit der Aufschrift NOTAUFNAHME, das den Regen rötlich färbte.
»Hallo, Honey«, sagte sie. Ihre Stimme klang müde.
»Tut mir leid, dich zu stören«, sagte er, weiter durch die Windschutzscheibe blickend. »Ich fahre erst noch zu Jess Rawlins’ Ranch raus, bevor ich nach Hause komme.«
»Zu Jess? Alles in Ordnung bei ihm?«
»Ich denke schon.« Er versuchte, in aller Kürze zusammenzufassen, was er in Erfahrung gebracht hatte. Auch Laura hatte Mitgefühl mit Jess, Fiona Pritzle war ihr schon immer unsympathisch gewesen. Plötzlich sah Hearne einen Schatten über die Motorhaube gleiten. Durch das
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