Stumme Zeugen
fragte Hearne ungeduldig. »Wo ist er? In seinem Büro?« Er eilte durch die Schwingtür neben ihrem Schreibtisch.
»Ja, aber Sie sollten warten, bis ich mit ihm telefoniert habe …«
Als Hearne eintrat, legte Carey gerade den Hörer seines Telefons auf. Das Büro war hell erleuchtet. Er blickte langsam zu Hearne auf, mit ausdrucksloser Miene. Es schien ihn nicht zu überraschen, dass der Bankdirektor an einem Sonntagabend um diese Zeit in seinem Büro auftauchte. Der Sheriff sah entsetzlich aus und hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem selbstbewussten Mann, der am Vortag die Pressekonferenz gegeben hatte.
»Alles in Ordnung, Sheriff?«
Carey nickte gemächlich. Seine Augen schienen zu tränen, die dunklen Ringe darunter wirkten wie aufgemalt. »Hallo, Mr Hearne.«
Hearne streckte ihm die Hand entgegen. Die des Sheriffs war kalt, sein Händedruck kraftlos.
»Sie sehen verdammt erschöpft aus, Sheriff.«
Carey lächelte traurig. »Das bin ich, Mr Hearne.«
»Ich werde Sie nicht lange aufhalten. Ich versuche, ein paar Dinge herauszufinden, und hoffe, Sie können mir dabei helfen.«
»Ziemlich spät dafür.«
»Ich weiß.« Hearne studierte sein Gegenüber. Carey wirkte physisch und emotional ausgelaugt, was bestimmt nicht nur an der Uhrzeit lag. Es war nicht der richtige Zeitpunkt für ein Geständnis. Das musste bis später warten.
»Als ich mich für dieses Amt zur Wahl stellte, hatte ich keine Ahnung, dass mich solche Nächte erwarten«, sagte Carey leise, gedankenverloren auf die Wand hinter Hearne starrend. »Ich glaube nicht, dass ich für solche Fälle der richtige Mann bin. Es ist zu viel auf einmal. Diese Geschichte wächst mir über den Kopf. Ich möchte nur noch nach Hause fahren, mich ins Bett legen und nie mehr aufwachen, verstehen Sie?«
Darauf fiel Hearne keine Antwort ein. Er kannte den Sheriff kaum, und was er wusste, war nicht gerade ermutigend. Und er hatte nicht damit gerechnet, Zeuge eines scheinbar unmittelbar bevorstehenden Nervenzusammenbruchs zu werden. »Soll ich Ihnen einen Kaffee bringen«, fragte er unbeholfen.
»Eine Kugel in den Kopf wäre mir lieber.«
Als Hearne erschrocken die Augen aufriss, hob Carey eine Hand. »Kleiner Scherz. Wenn auch mit ernstem Hintergrund.« Er wies mit einer Kopfbewegung auf das Fenster. »Diese Typen da draußen wollen, dass ich eine Erklärung abgebe. Mittlerweile ist der Fall die absolute Topstory.«
Carey ließ die Ereignisse der letzten drei Tage Revue passieren, vom Verschwinden der Taylor-Kinder bis zum Geständnis Tom Boyds, von der Bildung der Task Force bis zu dem gerade eingegangenen Anruf. Ein Deputy hatte berichtet, Oscar Swann sei übel zusammengeschlagen worden. Und als wäre das nicht genug, war auch noch Monica Taylor aus ihrem Haus verschwunden, zusammen mit einem Mann, dessen Beschreibung auf Jess Rawlins passte. »Auch Fiona Pritzle verdächtigt Rawlins«, schloss Carey.
Hearne war konsterniert. »Wie ist all das möglich?«,
fragte er schließlich. »Ich erkenne diese Stadt nicht wieder.«
»Mir geht’s genauso«, sagte Carey kopfschüttelnd.
Hearne dachte einen Augenblick nach. Sein Gehirn arbeitete fieberhaft, erwog alle Möglichkeiten. Keine davon war erfreulich. »Sheriff, wissen Sie, wo Singer im Moment ist?«, fragte er schließlich. »Oder die anderen Expolizisten?«
Carey schüttelte den Kopf, als wollte er sagen, dass nicht nur die Task Force, sondern auch alles andere seiner Kontrolle entglitten war.
»Wie können sie einfach verschwunden sein?«, hakte Hearne nach. »Sind sie vielleicht im Krankenhaus, bei Swann?«
Carey zuckte die Achseln. »Vielleicht. Ich weiß es nicht.«
»Was ist mit Eduardo Villatoro, diesem Detective? Wissen Sie, wo der ist?«
Wieder nur ein Achselzucken.
Hearne beugte sich verärgert vor. »Hören Sie, Sheriff, ich weiß, dass Sie es im Moment nicht einfach haben. Vermutlich haben Sie zwei Tage lang kein Auge zugetan. Aber verdammt, Sie sind nun mal der Sheriff und können hier nicht einfach nur herumsitzen.«
Carey schaute ihn mit einem nichtssagenden Blick an.
»Und was Sie da eben über Jess Rawlins gesagt haben, ich glaube kein Wort davon. Ich kenne Jess von Kindesbeinen an. Es ist ausgeschlossen - völlig ausgeschlossen -, dass er etwas mit dem Verschwinden der Kinder zu tun haben könnte. Jeder weiß, dass Fiona Pritzle eine Klatschbase der übelsten Sorte ist. Denken Sie, Singer und die anderen glauben ihr?«
Der Sheriff wandte den Blick ab. »Vielleicht.«
Hearne
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