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Stumme Zeugen

Titel: Stumme Zeugen Kostenlos Bücher Online Lesen
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versäumte er es nie, abwechselnd mit den Frauen zu flirten. Er machte
Komplimente über Kleidung und Frisuren oder sagte der gerade Anwesenden, er habe den Eindruck, sie sei schlanker geworden. Monica durchschaute seine Tour sofort, bewunderte aber seine unermüdlich gute Laune, seinen nicht zu leugnenden Charme und seine draufgängerische Art, die er umgehend an ihr ausprobierte. Obwohl sie es sich lieber nicht eingestehen wollte, überprüfte sie um kurz vor halb vier ihre Frisur und trug Lippenstift auf. Wenn er die Waren zu spät anlieferte, ließ sie es ihm kommentarlos durchgehen. Er machte Small Talk, bot an, beim Stapeln der Kartons zu helfen, Regale zu verschieben oder vor dem Laden Schnee zu schippen. Einmal fing er im Lagerraum eine Fledermaus, die sich irgendwie dorthin verirrt hatte, und brachte sie nach draußen, ohne ihr ein Haar zu krümmen.
    Als die Kassiererinnen darüber zu witzeln begannen, wie viel Zeit Tom in dem Geschäft verbrachte, bat Monica ihn, sich auf seine eigentliche Aufgabe zu konzentrieren. Würde er ja gern, antwortete er, aber er fühle sich eben so von ihr angezogen. Sie erzählte ihm von Annie und William, er sagte, er liebe Kinder und würde sie gern kennenlernen. Wie es mit einem gemeinsamen Essen wäre? Das war vier Monate und ein Dutzend Abendessen her. Die ganze Zeit über hatte sie sich unter Kontrolle gehabt, bis zur letzten Nacht, als sie ihren Gefühlen nachgegeben, die Augen geschlossen und leise gestöhnt hatte.
    Tom schloss den Kühlschrank und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Unterarme waren imposant. »Ich würde mir nicht so große Sorgen machen«, sagte er. »Als ich klein war, machte man sich wegen so was nicht so viele Gedanken. Ich erinnere mich, dass ich nach der Schule angeln
ging, Basketball spielte und meine Zeit vertrödelte, ohne auf die Uhr zu schauen. Ich kam nach Hause, wann es mir gefiel. Wenn ich das Abendessen verpasste, war es meine eigene Schuld. Heute wird gleich eine Staatsaffäre daraus gemacht, wenn man die Kinder auch nur eine Minute aus den Augen verliert.«
    »Redest du von mir?«, fragte sie.
    Sie wusste, dass er die Frage bejahen wollte, aber er beherrschte sich. »Nicht unbedingt. Ich meinte eher, wie es heute im Allgemeinen ist. Alle Welt ist so verdammt ängstlich, inklusive der Behörden. Wenn mal ein Kind nicht sofort nach der Schule zurückkommt, lösen sie gleich Großalarm aus. Früher war das hier anders. Wir vertrauten uns gegenseitig. Es kotzt mich nur an, das ist alles. Deine Annie kommt wahrscheinlich nur nicht zurück, um dir eins auszuwischen. Sie ist eine komplizierte kleine Person.«
    »Annie und William hatten heute früh Schulschluss, Tom«, sagte sie bedächtig. »Wenn sie nicht mit dir zum Angeln gefahren wären, hätten sie um zwei zu Hause sein müssen.«
    Man sah ihm sein schlechtes Gewissen an.
    »Du hast sie doch nach der Schule abgeholt, oder?«
    Tom atmete tief durch und schloss die Augen. »Zwei meiner Kollegen sind krank, deshalb musste ich ein paar zusätzliche Touren übernehmen. Ich hatte keine freie Minute und hab’s vergessen.«
    Monicas Miene erstarrte.
    »Ich habe heute Morgen ›vielleicht‹ gesagt und nichts versprochen.«
    »William hat es so aufgefasst.«

    Er zuckte die Achseln. »So was kommt vor, Monica.«
    Sie hatte sich den ganzen Tag über bei der Arbeit miserabel gefühlt. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie hatte darüber nachgedacht, ins Hinterzimmer zu gehen, die Schule anzurufen und sich Annie geben zu lassen. Gern hätte sie ihr erklärt, was in der letzten Nacht mit Tom passiert war, aber wie hätte sie es in die richtigen Worte fassen sollen?
    Deine Mutter hat einen schweren Fehler gemacht.
    Ihr Wort gebrochen.
    Zu viel Wein getrunken, mit Tom, nachdem du und dein Bruder zu Bett gegangen wart, und dann hat sie ihn in ihr Schlafzimmer mitgenommen. Er hat versprochen, zeitig aufzustehen und aus dem Haus zu sein, bevor ihr ihn sehen könnt. Er hat es versprochen.
    Doch sie hörte Annie antworten, sie habe geschworen, sich nie mit einem Mann einzulassen, der ihr und ihrem Bruder nicht auch ein Vater sein könne. Annie hatte sie nicht zu dem Schwur aufgefordert, sie hatte ihn freiwillig geleistet. Und jetzt hatte sie Verrat geübt, ihre eigenen Kinder mit diesem Mann betrogen. Wie hatte sie es so weit kommen lassen können? Wie konnte sie die Sache jemals wieder bereinigen?
    Annie war unnachgiebig und für ihr Alter überaus intelligent. Irgendwann würde sie ihrer

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