Stumme Zeugen
alles in Ruhe zu überlegen und vielleicht einen Teil zu retten.«
Jess war wütend. Der bloße Gedanke, den Betrieb auflösen zu müssen, war eine bittere Pille. Er dachte an seinen Großvater und seine Eltern, deren Vermächtnis er zerstört hatte. Der Name Rawlins und die Ranch waren das Einzige, worüber er sich definieren konnte. Wie hätte er sich da von der Hälfte seines Besitzes trennen können? »Ich bin Rancher«, sagte er. »Mit was anderem kenne ich mich nicht aus.«
Hearne rieb sich mit beiden Händen das Gesicht, und Jess fiel auf, wie weich sie wirkten. Seine eigenen Hände dagegen waren gebräunt und knorrig.
»Wir müssen uns etwas einfallen lassen«, begann Hearne. »Es ist ausgeschlossen, die Kredite noch einmal aufzustocken. Ich habe Vorgesetzte, die wissen wollen, wie ich mit diesen faulen Krediten umzugehen gedenke.«
»Es tut mir leid, Jim.«
»Sag das nicht, Jess. Ich ertrage es nicht, so etwas aus deinem Mund zu hören.«
Die Gegensprechanlage zirpte, und Hearne beugte sich vor und griff nach dem Headset. »Ich habe gerade einen Kunden hier, Joan.«
Jess hörte Joans Stimme. Sie musste etwas Wichtiges zu sagen haben, denn Hearne ließ sie geduldig ausreden.
»Hm, das ist schlimm«, sagte Hearne. »Natürlich können sie die Fotos aufhängen. Selbstverständlich.« Er lauschte weiter und blickte dann durch die Glaswand in die Bank. »Ja, ich sehe ihn. Er wird warten müssen.«
Damit war das Gespräch beendet, und Hearne wandte sich wieder Jess zu. »Entschuldige bitte«, sagte er mit kreidebleichem Gesicht.
»Kein Problem. Was ist passiert?«
»Kennst du die Familie Taylor? Monica Taylor?«
»Vom Hörensagen.«
»Sie hat zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Offenbar sind sie verschwunden.«
»Mein Gott!«
»Seit gestern. Sie hat den Sheriff angerufen, und ein paar andere Frauen wollen bei uns Fotos der Kinder aufhängen.«
Jess schüttelte den Kopf. »Bestimmt tauchen sie wieder auf.«
»Früher hat es so was nie gegeben«, sagte Hearne, bevor er sich daran erinnerte, warum er mit Jess zusammensaß. »Gib mir ein paar Wochen Zeit, damit ich mir etwas für dich einfallen lassen kann, Jess. Natürlich brauchst du dich
auf keinen meiner Vorschläge einlassen. Aber wir beide wissen, dass du im Verzug bist. Falls mir eine Idee kommt, wie ich dir aus diesem Schlamassel heraushelfen könnte, werde ich es tun.«
Jess lehnte sich zurück, bewegt von dieser Hilfsbereitschaft. »Das ist nicht nötig, Jim.«
»Möglicherweise nicht. Aber wir kennen uns schon so lange, und ich möchte nicht, dass auch deine Ranch in ein Schlösschen für Zugezogene aus Kalifornien umgebaut wird. Ein paar echte Ranches sollte es in diesem County schon noch geben.«
Jess erhob sich, setzte den Hut auf und reichte Hearne die Hand. »Jim, ich …«
»Sag nichts«, unterbrach Hearne. »Es ist gut fürs Geschäft, das ist alles. Wir vergeben sehr viele Kredite an Leute, die in einer Gegend leben wollen, die noch nicht total zersiedelt ist und wo es noch ein paar echte Ranches gibt.«
Jess schwieg, hätte Hearne aber am liebsten umarmt.
Den Mann, der ihn anlog.
Als er die Tür von Hearnes Büro öffnete, erkannte er unter den Frauen, die in der Bank die Fotos aufhängten, auch Fiona Pritzle. Bevor er die Flucht ergreifen konnte, hatte sie ihn gesehen.
Sie eilte zu ihm, trat viel zu dicht an ihn heran und packte seine Hände. »Haben Sie schon von den verschwundenen Kindern gehört?«
»Gerade. Entsetzliche Geschichte.« Ihre Hände waren trocken wie Pergament.
»Ich habe sie gestern in meinem Pick-up zum Sand Creek
mitgenommen«, erzählte sie mit leuchtenden Augen. »Sie wollten dort angeln, sind aber am Abend nicht nach Hause zurückgekehrt.«
»Bestimmt tauchen sie heute wieder auf.«
»Aber dieser reißende Fluss, vielleicht sind sie von der Strömung mitgerissen worden und ertrunken!«
Jess war abgestoßen, denn Fiona berauschte sich daran, dass sie eine Hauptrolle in diesem Drama spielte.
»Oder entführt worden«, flüsterte sie. »Mittlerweile leben so viele Zugezogene unter uns, von denen wir nichts wissen. Wer weiß, wie viele Sexualverbrecher unter ihnen sind.«
Jess zuckte zusammen. »Wurde ein Suchtrupp zusammengestellt?«
»Ja, Gott sei Dank. Die Deputys des Sheriffs und viele Freiwillige suchen nach den Kindern.«
»Schön, das zu hören.« Er machte sich behutsam von ihrem Griff frei und wünschte, mehr Vertrauen in den neuen Sheriff zu haben, der für ihn besser in
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