Stumme Zeugen
eine Public-Relations-Agentur oder die Handelskammer gepasst hätte. In diesem Moment fiel ihm auf, dass er mit Fiona den Zutritt zu Hearnes Büro versperrte.
»Ja, das ist eine gute Sache«, sagte Fiona. »Ich habe gehört, dass auch einige der ehemaligen Polizisten angeboten haben, dem Sheriff bei seinen Nachforschungen zu helfen. Sie waren heute Morgen schon bei ihm. Ist das nicht großartig?«
Jess nickte. »Wahrscheinlich ist dem Sheriff ihre Hilfe sehr willkommen.«
»Daran sieht man, dass auch viele von den Zugezogenen
ein gutes Herz haben. Und diese Excops haben Erfahrung mit Verbrechen. In L. A. hatten sie ständig mit solchen scheußlichen Sachen zu tun.«
»Entschuldigung.« Hearne zwängte sich an Jess vorbei, ging durch den Kassenraum und begrüßte einen Mann, der in einem der bequemen neuen Sessel saß. Es war ein stattlicher Hispano in einem hellbraunen Anzug.
Jess wies mit einer Kopfbewegung auf das große Foto, das Fiona gerade an der Wand befestigt hatte. »Schön, dass Sie sich so engagieren. Ich werde die Augen offen halten. Schließlich wohne ich weiter flussaufwärts am Sand Creek.«
Hearne führte den gut gekleideten Besucher zu seinem Büro. Bevor er die Tür schloss, sagte er zu Jess: »Nimm’s nicht so schwer. Mir fällt schon etwas ein, ich rufe dich an.«
»Danke, Jim.«
Jess ahnte, dass Fionas Gehirn fieberhaft zu arbeiten begann.
»Heißt das, Sie können die Ranch behalten?«, fragte sie neugierig.
Auf dem Weg zum Ausgang blieb Jess vor einem der Aushänge stehen. Über dem Foto stand VERMISST, darunter: ANNIE UND WILLIAM TAYLOR, ZULETZT GESEHEN FREITAG 14 UHR 30, IN DER NÄHE DES RILEY-CREEK-CAMPINGPLATZES AM SAND CREEK. Zusätzlich hieß es, Annie habe ein gelbes Sweatshirt, Jeans und schwarze Turnschuhe getragen, William ein kurzärmeliges schwarzes T-Shirt, Jeans und rote Tennisschuhe. Möglicherweise habe einer der beiden eine zu große Anglerweste an.
Das Bild versetzte Jess einen Stich ins Herz, und er musste darüber nachdenken, dass man auf Kinderfotos schon die zukünftige Persönlichkeit erahnen konnte, wenn man sich die Mühe machte, genau hinzuschauen. Auch jetzt noch, wenn er sich zu Hause alte Fotos seines Sohnes und seiner Tochter ansah, erschien es ihm nur logisch, was aus ihnen geworden war. Nicht, dass er es damals schon gewusst hätte. Aber es gab kleine Anhaltspunkte für die künftige Entwicklung. Ach, hätte er es bloß gewusst.
William lächelte breit, das Haar fiel ihm in die Stirn, und er hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt. Er wirkte zugleich unbeschwert und etwas traurig. Doch noch mehr faszinierte ihn Annie. Sie war blond und hatte einen offenen Blick, der den Fotografen herauszufordern schien. Ihre Augen und ihr entschlossenes Kinn verrieten Persönlichkeit. Er mochte sie sofort und fühlte sich auf eine unerklärliche Weise zu ihr hingezogen. War er ihr schon einmal begegnet? Er kramte in seinem Gedächtnis, jedoch ohne Erfolg.
Vielleicht sah er etwas in ihr, obwohl er ihr nie begegnet war. Möglicherweise erinnerte ihn das Foto daran, wie sehr er sich Enkelkinder gewünscht hatte. Der Gedanke war ihm etwas peinlich. Normalerweise verdrängte er das Thema eher, doch jetzt traf ihn die Erkenntnis mit voller Wucht. Er wünschte sich, ein neues Leben zu beginnen und diesmal vielleicht alles anders zu machen, besser. Vielleicht würde er dann statt eines leeren Hauses und einer heruntergewirtschafteten Ranch Kinder um sich haben, mit denen er Zeit verbringen konnte. Eventuell konnte er einen Teil seines Wissens an sie weitergeben und ihnen erklären, sie seien … etwas Besonderes.
Er schüttelte den Kopf, starrte aber weiterhin auf das Foto.
Am unteren Rand standen die Telefonnummern des Büros des Sheriffs.
Als er sich auf dem Weg nach draußen noch einmal umdrehte, sah er den gut gekleideten Mann seine Aktentasche öffnen. Dann breitete er ein paar Schriftstücke auf Jim Hearnes Schreibtisch aus.
Samstag, 9.45 Uhr
Annie und William waren seit neunzehn Stunden verschwunden, und Monica Taylor war außer sich. Sie hatte weder geschlafen noch gegessen, geduscht oder sich umgezogen, seit sie Tom am Vorabend aus dem Haus geworfen hatte. Es war eine lange Nacht gewesen, und alles war noch schlimmer geworden, als dichter Rauch aus der Küche gekommen war. Sie hatte die Lasagne im Backofen völlig vergessen. Die freiwillige Feuerwehr kam, Monica stand im Vorgarten, hemmungslos weinend. Ein Mann tröstete sie, der Rest stürmte mit
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