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Stumme Zeugen

Titel: Stumme Zeugen Kostenlos Bücher Online Lesen
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»Außerdem stinkt er.«
    »Du fährst.« Singer gab Gonzales die Schlüssel für den Lieferwagen. »Halt dich hinter mir.«
    »Cool«, sagte Gonzo. »Ich wollte schon immer mal so eine Karre fahren.«
    Als Singer in seinem weißen Geländewagen saß und im Rückspiegel die Scheinwerfer des UPS-Lieferwagens aufleuchten sah, wandte er sich Newkirk zu. »Das war ein Geschenk des Himmels. Jetzt können wir die Lage unter Kontrolle bringen.«
    Newkirk hatte keine Ahnung, wovon er redete. Er schob die Hände unter seine Oberschenkel, damit Singer nicht sah, dass sie zitterten.

Zweiter Tag
    Samstag
    Nicht nur, dass die Vorfahren vergessen werden und der Blick
auf deren Nachkommen vernebelt ist, die Demokratie fördert
auch die Isolation des Einzelnen von seinen Zeitgenossen. Jeder
ist für immer auf sich selbst zurückgeworfen, und es besteht
die Gefahr, dass er sich in der Einsamkeit des eigenen
Herzens einschließt.
     
Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, 1835

Samstag, 8.45 Uhr
    Nachdem er mitten in der Nacht zwei Kälbern auf die Welt geholfen, um fünf Uhr morgens das Vieh gefüttert und sich danach ein ausgewachsenes Frühstück mit einem Steak, Eiern und Kaffee gegönnt hatte, ging Jess Rawlins unter die Dusche und zog anschließend ein Jackett und eine ordentliche Hose an. Als er die Krawatte umgebunden hatte, setzte er seinen besten Hut auf, einen grauen Stetson Rancher, ging nach draußen und stieg in seinen Pick-up. Der Himmel war wolkenlos, doch da es in der Nacht geregnet hatte, hing noch etwas Bodennebel über den Weiden, der den Geruch des Kuhmists und der Alfalfa intensivierte. Wahrscheinlich würden am Nachmittag wieder Wolken aufziehen. Er hatte einen Karton mit Unterlagen dabei und stellte ihn auf den Beifahrersitz.
     
    Jim Hearne erwartete ihn. Er trug ein Jackett, Krawatte, Tuchhosen und Stiefel. Obwohl es mittlerweile fünf Jahre alt war, hatte sich Jess immer noch nicht an das neue Gebäude der Bank gewöhnt. Mit den großen Fenstern und der modernen Inneneinrichtung war es beeindruckend, doch er bevorzugte das elegante alte, einstöckige Gebäude aus rotem Backstein an der Main Street, seine dunklen Räume, das gedämpfte Licht, die Parkettböden. Früher hieß das Geldinstitut North Idaho Stockman’s Bank, und nach drei Namenswechseln nannte es sich nun First Interstate. Neuerdings
war die Bank auch samstags geöffnet. Die Familie Rawlins wickelte dort seit 1933 ihre Geldgeschäfte ab.
    »Tag, Jim.«
    »Hallo, Jess.«
    Jim Hearne war Ende vierzig und ein untersetzter Mann mit sich lichtendem braunem Haar, einem breiten Gesicht und aufrichtigen blauen Augen. Früher war er ausschließlich für die Vergabe landwirtschaftlicher Kredite zuständig gewesen, doch mittlerweile, als Bankdirektor, lasteten schwerere Pflichten auf seinen Schultern. Als ehemaliger Rodeoreiter, der zweimal in die nationale Endausscheidung gekommen war, hatte er immer noch O-Beine. Die Rawlins Ranch war damals sein Sponsor gewesen. Er führte Jess in sein Büro und schloss die Tür.
    Jess setzte sich auf einen der beiden Stühle vor Hearnes Schreibtisch und stellte den Schuhkarton mit den Unterlagen auf den anderen. Dann nahm er den Hut ab und legte ihn neben sich auf den Boden, mit der oberen Seite nach unten. Auf dem Schreibtisch lag eine dicke Akte mit Namensschild, auf dem »Rawlins« stand.
    Hearne setzte sich. »Ganz schön feucht in letzter Zeit. Müsste gut für die Landwirtschaft sein.« Obwohl mittlerweile Bankdirektor, empfing Hearne alte Kunden weiter persönlich und verfiel schnell in das gewohnte Geplauder. Jess kannte ihn seit dreißig Jahren.
    Er nickte. Sie wussten beide, weshalb er hier war, und Jess hatte kein Faible für Small Talk.
    »Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll, Jess«, sagte Hearne.
    Jess betrieb eine Ranch von dreitausend Morgen. Tausendachthundert
davon hatten der Familie schon immer gehört, die anderen tausendzweihundert waren ihr vom Bundesstaat und dem Federal Bureau of Land Management urkundlich übertragen worden. Er hatte dreihundertfünfzig Tiere, Hereford-Rinder, Kühe und Kälber, und wenn das Gras gut war, wie in diesem Jahr, ließ er gegen eine Pacht noch hundert bis hundertfünfzig fremde Masttiere auf seinen Weiden grasen. In diesem County war es die zweitgrößte noch verbliebene private Ranch. Hearne hatte die Größe des Viehbestands und Landeigentums präsent und musste die Akte nicht öffnen.
    Jess nickte. »Eigentlich gibt es nicht viel zu sagen.

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