Stumme Zeugen
Feuerlöschern und Schläuchen ins Haus und tauchte ein paar Minuten später mit einer geschwärzten, kaum noch wiederzuerkennenden Auflaufform samt einer schwarzen, klebrigen Masse darin auf. Die Nachbarn, die in Bademänteln oder Trainingsanzügen nach draußen gekommen waren, verschwanden wieder in ihren Häusern.
Vor dem Malheur mit der Lasagne waren zweimal Deputys des Sheriffs bei ihr gewesen. Beim ersten Mal hörten
sie sich ihre Sorgen an, beim zweiten Mal, um kurz vor Mitternacht, wollten sie Beschreibungen und Fotos der Kinder. Der Unterschied in ihrem Verhalten war augenfällig. Beim ersten Besuch hatte einer der Deputys tatsächlich noch mit ihr zu flirten versucht, beim zweiten wendete auch er den Blick ab und sprach in einem ernsten Ton, der ihr klarmachte, dass die Polizei die Sache sehr ernst zu nehmen begann.
Irgendwann hatte der Sheriff genug davon, dass sie stündlich anrief. Er schickte einen Arzt, der Valium verschrieb, das ihren seelischen Schmerz zwar dämpfen, ihn aber nicht zum Verschwinden bringen konnte. Sie musste nur einen Blick auf die Fotos ihrer Kinder werfen, deren Rahmen jetzt mit einer schmierigen Schicht überzogen waren, um sich des ganzen Ausmaßes ihres Elends bewusst zu werden.
Im Laufe der Nacht hatte sie eine Art Routine entwickelt - sie trat durch die Hintertür in den Garten, umrundete das Haus gegen den Uhrzeigersinn und betrat es erneut durch die Eingangstür. Dabei umklammerte sie das schnurlose Telefon so fest, als wollte sie es zerquetschen. Im Flur warf sie einen Blick in den Spiegel und erkannte sich fast nicht wieder. Sie hatte rot geränderte Augen, eingefallene Wangen und verfilztes Haar. Wenn sie ging, hatte sie das Gefühl zusammenzubrechen. Jetzt wusste sie, wie sie sich als alte Frau fühlen würde.
Wenn das Telefon piepte - und es piepte ständig -, bat sie Gott, es möge eines ihrer Kinder sein. Aber es war nie Annie oder William, sondern das Büro des Sheriffs, ein besorgter Nachbar, ein Journalist der Lokalzeitung oder eine Postbotin namens Fiona Pritzle, »die letzte Person auf dieser
Erde, die die beiden Kinder lebend gesehen hat«. Bei diesem Satz hatte sie sich an der Wand abstützen müssen, weil ihre Knie nachzugeben drohten.
Wieder und wieder sah sie vor ihrem geistigen Auge, was sich am Vortag am Frühstückstisch abgespielt hatte, und sie wünschte, Tom wäre vorher verschwunden oder - noch besser - nie in ihr Leben getreten. Sie hasste sich selbst dafür, was geschehen war, und bat Gott immer wieder, ihr eine zweite Chance zu geben, alles richtig zu machen. Aber wahrscheinlich hatte Gott, wie der Sheriff, allmählich genug davon, ständig von ihr zu hören, besonders angesichts der Tatsache, dass er jahrelang in ihren Gedanken keinerlei Rolle gespielt hatte. Sie schwor, dass es mit Tom endgültig vorbei war. Keine Toms mehr, Punkt.
In ihrem bisherigen Leben hatte sie nie einen Kompass gehabt, der ihr die Richtung vorgeben konnte. Ihre Eltern konnten ihr keine Orientierungshilfe geben, bestimmt keine, die sie auf so eine Situation vorbereitet hätte. Schon immer hatte sie diejenigen beneidet, die einen Plan und ein Ziel hatten, etwas, das auch ihrem Leben einen festen Rahmen gegeben hätte. In Zeiten der Verwirrung und Verzweiflung hatte sie kaum etwas, das ihr Halt gab, und niemanden, den sie um Rat oder Hilfe bitten konnte. Ihre Mutter bestimmt nicht. Und wer wusste überhaupt, wo ihr Vater war?
Es war schwer, allein zwei Kinder großzuziehen. Ihre Männerbekanntschaften waren selbst geschieden, mit Problemen belastet und sonderbar. Oder verheiratet und auf der Suche nach einem schnellen Abenteuer. Oder unreif, wie Tom. Keiner von ihnen hatte das Potenzial oder auch nur
den Wunsch, den Kindern ein guter Vater zu sein, und gerade danach sehnte sie sich. Beide brauchten einen Vater, William noch mehr als Annie. Sicher, an ihr selbst hatten die Männer Interesse, aber nicht an ihr und den Kindern. Sie konnte es ihnen eigentlich nicht verübeln, tat es aber trotzdem. Es hatte zu viele Jahre vergeblichen Hoffens gegeben, zu viele Jahre der Demütigung und Lähmung, in denen sie nur darauf gewartet hatte, dass ein Mann sie rettete. Dabei war ihr durchaus bewusst, dass sie nicht die einzige einsame und alleinerziehende Mutter auf dieser Welt war. Ihre eigene Mutter hatte dieselbe Erfahrung machen müssen, als ihr Vater - der sie, Monica, immer seine »Prinzessin« oder seinen »Engel« nannte - sich ohne ein Wort des Abschieds aus dem Staub
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